Das neue Buch ist da!
Erzählungen, die in diesem Blog zum Teil veröffentlicht sind, haben wir vollendet. Darum geht es:
Wenn Sie glauben, dass alles seinen gewohnten Gang geht,dass das Leben in Ordnung ist, können Sie sich darauf verlassen verlassen? Einfach dieses gute Gefühl genießen? Oder verbirgt sich hinter der Normalität des Alltags der Wahnsinn? Was nehmen Sie wahr,wenn Sie denken alles ist gut – oder schlecht?
Fokussierung der Aufmerksamkeit schafft eine Wirklichkeit, die nicht immer wahr ist: Das ist bei allen Begegnungen unvermeidlich. Immer begegnet man sich selbst, auch ohne auf andere zu treffen. Wenn zwei Autoren aus verschiedenen Perspektiven schreiben, eröffnet sich ein breiteres Spektrum von Geschichten und ein Facettenreichtum, der mehr ist als ein Aneinanderfügen von Geschichten. Es entsteht etwas ambuigue(s), etwas Neues im Erzählen. Mit einer gemeinsamen Story erfolgt der Auftakt: Auf der einen Straßenseite schaut eine junge Frau mit Beziehungsproblemen in das Fenster eines Mannes, der den Krieg in Srebrenica als Opfer und Täter überlebt hat und möglicherweise gerade von zwei Frauen ermordet wird – oder auch nicht. Es folgen 20 Erzählungen, in denen Begegnungen und die hieraus entstehenden Beziehungen lebensverändernd wirken. Mit Humor und Zweideutigkeit. Manchmal politisch untermalt, greifen sie aber im Wesentlichen den Alltag auf. Es geht um Sehnsucht, Schuld, Trugbilder, Rache, Verzweiflung, Lust, Emanzipation, Wahrnehmungsstörungen und einfach nur um schöne und berührende Erlebnisse.
Gemeinsam mit Svenja Hirsch veröffentlicht.
Auszug:
Lamellen – Begegnungen, eine Vorgeschichte aus dem Buch….
Das Fenster geht über die gesamte Zimmerfront. Auf der Fensterbank steht ein Blumenkübel mit abgebrochenen Stielen einer Blume, von der ich nicht mehr weiß, welche Art es genau gewesen ist. Ich hätte sie mehr pflegen, mehr gießen sollen. Sie sehen traurig aus, trocken und abgestorben. So wie ich. Das Licht des Computer-Bildschirms färbt bläulich auf die Zweige ab, auf meine Hände. Seit einer halben Stunde beobachte ich das Farbenspiel, starre apathisch aus dem Fenster. Ein Wohnblock neben dem nächsten, gebaut in Reih und Glied. Die vielen Eingänge, Türen zu Treppenhäusern, die zu den Wohnungen führen. Zwischendrin nur Balkone, kleine Terrassen und Gärten, ein schmaler Gehweg. Von der linken Seite her rauscht die Straße. Die Fenster gegenüber sind gardinenverhangen. Alte Leute, denke ich und schaue kurz zurück auf den Bildschirm. Nur das eine Fenster, schräg rechts, hat keine weißen, fließenden Spitzenstoffe.
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Eine Lamellenjalousie verdeckt, wenn etwas verdeckt werden soll. Zeigt, wenn etwas gezeigt werden soll, oder deutet an, was sich dahinter verbergen könnte. Ich kneife die Augen zusammen, schaue dann schnell wieder weg. Meine Gardinen sind weiß und schwer, mit großen Ösen, nur zugezogen, wenn ich schlafe. Sonst kann jeder von gegenüber sehen, wie ich alleine und zusammengerollt auf meiner 90 cm breiten Matratze liege. Kein Platz für einen zweiten Menschen in der Ein-Zimmer-Wohnung. Hinter den Lamellen ist ein Schatten. Ein Kind oder ein sitzender Erwachsener. Schreibtischhöhe, meine Höhe. Er bewegt sich und wird länger. Kein Kind, ein ausgewachsener Mensch. Steht frontal, entweder mit dem Rücken oder Gesicht zu mir, breites Kreuz, ein Mann. Meine Gardinen sind zu beiden Seiten aufgezogen, geben den Blick auf mich an meinem Schreibtisch frei. Er könnte mich jetzt gut beobachten oder sehen, dass ich ihn beobachte. Ich schaue weiter zu den Lamellen. Der Schatten bewegt sich, ein zweiter kommt dazu, hinten aus dem Licht einer geöffneten Tür. Oder dem, was ich als die Tür erkenne.
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Ich arbeite, öffne Back-Ends, tippe Codes in Masken und aktualisiere. Die Zeit vergeht, ich fülle die Online-Shops meiner Kunden mit neuen Produkten. Trash, denke ich, doch er bringt mir Geld. Bezahlt die Ein-Zimmer-Wohnung mit dem schmalen Bett. Gerade so. Bestandskunden, die ich während meiner erfolgreichen Zeit als selbstständige Online-Shop-Managerin akquiriert habe. Jetzt betreibe ich kaum noch Akquise, die Kunden schwinden, die Kontakte generell. Drüben brennt noch Licht. Als ich den PC runterfahre, ist es bei mir stockdunkel. Dann werden auch die Lamellen sorgsam von innen geschlossen.
Eigentlich ist es mir völlig egal, was die Leute über mich denken. Sie denken ja eh, was sie wollen. Ich habe meine Fenster gern offen, frei von Stoff, anders als viele hier. Biete, wem auch immer, Einblick. Manchmal nur ein wenig durch schräg gestellte Lamellen. Andere haben lieber Gardinen, vielleicht nur, um sich dahinter zu verstecken. Die Häuser stehen sich eng gegenüber und geben einen freien Blick in das 100-fache Theater in diesen Schaukästen.
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Wie Puppenstuben. Wohnzimmer, Schlafzimmer. Wenn die Häuser nach Norden ausgerichtet sind, kann man auch in die Küchen blicken, in die Töpfe gucken. Sehen, wer alleine lebt, Familienleben, wechselnde Partner, nackte Menschen in allen erdenklichen Situationen. Schamlos, vergessend, dass jemand sie sehen könnte. Das alles wird von vielen gar nicht mehr wahrgenommen, denke ich, für sie ist es wie Autoverkehr, in den sie sich einfügen. Gedankenlos, eng beieinander und dennoch anonym. Wen interessiert das schon. Gegenüber sehe ich im Hintergrund eine bläulich illuminierte Silhouette, die sich im Fenster spiegelt. Wieder so eine einsame Person, die sich am Computer festhält, bis sie einschlafen kann. Ich ziehe mich vom Fenster zurück. Ich sitze gern am Fenster. Wenn ich mich zu sehr beobachtet fühle, schließe ich die Lamellen auf eine Weise, die mir die Möglichkeit lässt, hindurch zublinzeln und das Geschehen auf der Straße, die zwischen den Häusern verläuft, zu verfolgen. Auch die mittleren Etagen kann ich auf diese Weise einsehen, das reicht mir meistens. Ich habe mich einmal in
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das Treppenhaus gegenüber geschlichen, um auszuprobieren, was man von dort aus sehen kann. Manchmal, wenn ich irgendjemanden bemerke, spiele ich auch mit der Fensterverdunklung. Egal wer da guckt. Ein Angebot im Schaukastentheater, ja, das biete ich manchmal.
In den nächsten Tagen brennt die Sonne in meine Wohnung. Tagsüber muss ich den linken Vorhang ein Stück zuziehen, um nicht komplett zu verbrennen. Ich arbeite, sitze, starre gegen den Stoff. Wie eingepfercht in den eigenen vier Wänden, der Blick kann nicht weit schweifen, er bleibt nur wenige Zentimeter weiter stehen, verirrt sich in dem Weiß, bis er ermüdet aufgibt. Nachmittags lässt sich der Vorhang endlich wieder ganz öffnen. Mein Blick wandert jedes Mal zu den Lamellen, jedes Mal dasselbe Spiel: ein Schatten, der hinter dem Rollo sitzt, sich erhebt, einige Zeit wie erstarrt vor dem Fenster verweilt. Ich fühle mich beobachtet und beobachte doch penetrant zurück. So geht es bis zum Freitag. Keine Alternative. Ich kann nirgendwo anders hin, ein Büro kann ich mir nicht leisten…..
Später….
Ich kenne die Frau nur flüchtig. Ich erkenne sie an ihrem alt gewordenen Gesicht. Aber ich weiß nicht mehr, wer sie war, oder gar, wie sie heißt. Es stellt sich auch kein Gefühl ein. Sie sagt, sie kenne mich gut. Sie lacht. Warum lacht sie,
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frage ich mich. Ein Tee? Ein Kaffee? Etwas anbieten oder keine Zeit haben? Ein Tee wäre jetzt doch gut, sagt die Frau. Ich will meine Lamellen ein wenig weiter öffnen, damit die Person von gegenüber, die immerzu bläulich gefärbte Person, teilhaben kann an meinem Besuch, der mir nach der ersten Überraschung gar nicht mehr bekannt vorkommt. Die Frau gegenüber weiß, dass ich zurückgucke, sie muss es wissen, sonst macht alles keinen Sinn. Sie könnte Zeugin sein. Ich weiß noch nicht wovon. Sie steht da am Fenster und ich scheine ein Teil ihrer Welt zu sein. Erst will ich das Teewasser aufsetzen. Es klingelt wieder. Die Frau öffnet, bevor ich bereit bin. Ich weiß nicht, warum ich das zulasse. Es ist außerdem völlig unaufgeräumt. Was soll ich zuerst machen? Schnell schiebe ich den großen Kleiderständer beiseite. Meinen fast zwei Meter hohen Butler, der wie immer vollgehängt ist, mit mit Kleidungsstücken, die ich in den letzten Wochen getragen habe. Meine Bewegungen sind zu abrupt und das Monstrum kippt, in Zeitlupe zwar, aber unaufhaltsam zu Boden. Es fällt leicht, weich und leise,
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gedämpft durch den Berg von Klamotten. Lärm macht lediglich das rahmenlos verglaste Poster, welches im Fallen von der Wand gerissen wird. Dann stehen unvermittelt zwei Frauen im Raum. Sie lachen, sie freuen sich anscheinend über das Chaos. Sie sehen sich an und lachen wieder, die zuletzt gekommene Frau sagt: „Ich gehe dann mal in die Küche.“ Sie schwingt sich dynamisch, mit dunkelgrünen Highheels beschuht, in Richtung Küche. Woher weiß sie, wo die Küche ist, denke ich noch, bevor die erste Frau, die mit dem alten Gesicht, sagt: „Wir haben Kekse mitgebracht.“ Ich komme nicht darauf. Wer ist sie, und Kekse, was für Kekse? „Wir trinken erst einmal einen Tee und dann räumen wir auf, nicht?“ „Woher kennen Sie mich?“, frage ich. Mittlerweile sitze ich auf meinem Sofa, von wo aus ich sowohl den Raum als auch das Fenster sehen kann. Sie sagt nichts, lächelt aber freundlich. Dabei blitzen zwei silbern überkronte Schneidezähne aus ihrem Mund. Das Dorf, sagt sie nach einer Weile, und jetzt blitzen auch ihre Augen. Aber sie sieht aus wie jede Frau aus einem Dorf, jedenfalls in ihrem Alter sieht sie aus wie jede Frau.
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