Hitler in Lissabon

Hitler in Lissabon

Die legendäre, antike Tram 28 fährt die beliebteste Route durch Lissabon. Der Himmel ist leuchtend blau, es weht ein leichter Wind, dennoch sind 37 Grad so leicht nicht abzukühlen. Ich freue mich auf einen entspannten Ausflug, bin neugierig auf die Stadt. Die Touristen stehen gern lange, eine Stunde und mehr, für eine Fahrt an. Oder drängeln sich einfach vor. Ich stehe an und ärgere mich ein wenig über die Dreistigkeit. Ein kleiner Tumult am Einstieg wird in Kauf genommen. Aber Achtung: Im Reiseführer steht in hervorgehobenen Lettern:
„Vor Tumult wird gewarnt! Taschendiebe inszenieren verwirrende Szenen um die Fahrgäste zu bestehlen!“
Die beste Startposition scheint die Station Martim Moniz zu sein, wenn man einen Sitzplatz haben möchte. Die Bahn ist voll, bei vielen ist der Adrenalinspiegel hoch, denn der Kampf um einen Meter in der Schlange um dann einen Sitzplatz zu gewinnen strengt an. Ich finde einen Platz direkt am Einstieg, was sich als nicht vorteilhaft erweist. Menschen kommen mir nah, mit gefühlt dicken Hintern und mit scheinbar überbordenden Bäuchen hängen sie über mir. Das touristische Adrenalin macht alles größer. In dem Gewühl immer den Hinweis auf „Pickpockets“, Taschendiebe! im Blick, Portemonnaie und Mobilphon vorne in den Hosentaschen. Vorsicht vor Tumult und Ablenkung! Manche Menschen benötigen einfach viel Platz. Anfangs wehre ich mich noch, dann wird es richtig voll und völlig egal, welcher Körper sich wo befindet. Das eine oder andere dazugehörige Gesicht versucht ein Lächeln. Ein junger, bärtiger Typ setzt sich beim Drängeln in den hinteren Wagenteil kurz auf mein Knie, ich drücke ihn weg, er redet dann auf portugiesisch auf mich ein, ich sage, er soll nicht auf meinem Knie sitzen. Ah, du bist Hitler, sagt er auf englisch zu mir. Was, du bist ja Hitler. Bist du Hitler, schreit er mich an. Ja klar bin ich Hitler und signalisiere ihm, was für einen langen Bart sein Spruch hat.
„Pickpockets“ habe ich vergessen. Der Typ nervt durch seine Nähe und seine Dreistigkeit. Was soll ich sagen? Selber Salazar, du portugiesischer Diktator? Das ist doch deine Projektion des portugiesischen Faschismus auf mich Deutschen, sage ich. Das war ich nicht, mit dem Dritten Reich, sage ich nicht. Mein Vater war im KZ, sage ich auch nicht, obwohl es stimmt. Kollektivschuld? Gilt die für alle? Außerdem bin ich nie als Deutscher im Ausland unterwegs. Leck mich. Jemandem im Ausland eine rein zuhauen ist nur eine theoretische Option, auch wenn das ein starker Impuls ist. Außerdem wäre ich dann noch mehr Hitler.

„Pickpockets! Nutzen den Tumult. Achten sie bei Tumult auf Ihre Taschen“.

Ich könnte ihm erzählen, wie Hitler das rosa Kaninchen stahl. Vielleicht würde er sich beruhigen? Die Geschichte der Rettung einer jüdischen Familie, bei der lediglich das rosa Kaninchen der Tochter konfisziert wurde? Das wäre eine schöne paradoxe Intervention. Hitler hat das rosa Kaninchen geklaut. Ich schweige, warte auf eine weitere Reaktion. Doch dann drängelt er sich über die Fahrgäste in der Reihe hinter mir. Selber Hitler. Er legt sich über ein japanisches Ehepaar und nervt mit Selfies, die er durch das geöffnete Fenster auf sich schießt. Aufdringlich, drängelnd, provozierend. Die nächste Haltestelle. Eine junge Frau mit rot lackierten Fingernägeln steht plötzlich neben mir und ist gleich wieder ausgestiegen. Die Bahn fährt an, dann Schreie hinter mir: „Driver stop! Stop, stop!“ Es sind die Japaner hinter mir. „Driver stop, they stole my money!“ Der bärtige Salazar ist plötzlich weg. Mit der Frau und dem Geld. Genauer betrachte hat Hitler ja den Japanern das Geld geklaut. „Pickpockets!“.

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