Aus: Jens Gärtner, Die Kunst des Selbstrasierens, dokumentarischer Roman, 2014.
Feldhaus Verlag, Hamburg
Lüttich, August 1934, Begegnungen im Widerstand gegen die Nationalsozialisten. Mit dem Fahrrad die Informationen aus dem Ausland nach Deutschland schmuggeln – und umgekehrt. Tarnnamen: „Die Kunst des Selbstrasierens“.
Herzklopfen. Hoffentlich hält der Reifen bis Hamburg. Der Schlauch quoll an einer Stelle aus dem Mantel. Heinz konnte ein Fahrrad relativ schnell reparieren. Normalerweise. Das hier war aber nicht normal. Es war anders, als bei seinen sonstigen Fahrradreisen. Es blieb ihm dennoch nichts anderes übrig, als kräftig in die Pedale zu treten. Den Reifen zu flicken traute er sich nicht, zu viel Wasser von oben und der Zug würde am Bahnhof nicht auf ihn warten. Zu allem Überfluss hatte er sich ein weiteres kleines Loch in den Reifen gerissen. Im Schlauch die illegalen Schriften der „Sozialistische Aktion“ verstaut. Die ganze Anstrengung wäre vergeblich, wenn die Reifen nicht hielten. Der Weg umsonst, die Schriften aus dem Ausland nass und unlesbar. Das Dünndruckpapier in seinen Fahrradreifen aufgeweicht, was für eine schreckliche Vorstellung. Die wertvollen Informationen der SPD im Exil. Mühsam hergestellt. Die Ergebnisse der Diskussionen der Genossen dort. Texte, die anspornen und Handlungsrichtlinien sein sollten.
Der Regen wehte ihm von der Seite unaufhörlich hinter die beschlagenen Brillengläser. Er atmete in seine locker zugebundene Kapuze, zählte die Umdrehungen und versuchte die gefahrenen Kilometer zu schätzen. Er fuhr sich in eine leichte Trance. Im Kopf Beethovens Neunte, der dritte Satz, „Fester Mut in schwerem Leiden…“ Dann die Fünfte. Er kannte beide auswendig. Mit seinen Genossen wanderten sie so oft es ging von Winterhude zur Musikhalle oder zur Staatsoper in die Innenstadt. Die meisten von ihnen liebten Musik und viele spielten selbst ein Instrument. Hinter den Pfeilern auf den billigen Studentenplätzen der Musikhalle konnte man die Musik noch ganz gut hören. Sehen konnte man die Musiker nicht, aber die Akustik war hier gut. Er liebte diese Musik. Beethoven, kraftvoll. Mozart ließ ihn abheben, die Gefahren vergessen. Den braunen Gestank, die Speckhaken der Nationalsozialisten. So oft es ging, versuchte er mit den Winterhudern und manchmal auch mit den Eimsbütteler Genossen jede Gelegenheit zu ergreifen, in die Oper oder ins Konzert zu gehen. Diese Musik erwachte jetzt in seinem Kopf und klang in seinen Ohren. Es gelang ihm sehr gut, sich darauf zu konzentrieren. Diese Klänge, die brennenden Beinmuskeln und der anhaltende Regen ließen die Fahrt surreal werden. Von seiner Umgebung nahm er kaum etwas wahr.
Er würde bald eine kurze Pause machen müssen. Etwas trinken, ein Stück vom Apfel abbeißen. Kräfte einteilen. In die Kopfmusik hinein schoben sich die Gedanken an seine Mutter. Was er tat, war richtig, davon war er überzeugt. Was halfen all die Ansichtskarten, die er von jeder Zwischenstation versandte, gegen die Angst seiner Mutter und ihr schwaches Herz? Ein Lebenszeichen von ihm auf seiner weiten Reise mit dem Fahrrad. Immerhin ein kleiner Trost, beruhigte er sich. Ich bin auf dem Rückweg, Mutter, rief er in den Wind. Vielleicht eine Ahnung von der Zerbrechlichkeit des Lebens. Ihres arbeitsreichen Lebens mit den vier Kindern und den Eltern im Haus. Alle wollten versorgt werden. Er selbst war noch mit einem Fuß im Paradies der unsterblichen Jugend, mit einer unglaublichen Leichtigkeit ausgestattet, mit dem anderen Bein in einem tödlichen Umfeld. Unvermittelt lachte er Tränen, voller Zuversicht. Freute sich, dass er mit seinen 17 Jahren so viel Freiheit hatte. So viel Freiheit in dieser undemokratischen deutschen Welt. Die Freiheit, sich für die richtige Seite zu entscheiden. Gegen die Nazis, für den Sozialismus.
Diese Freiheit, diese Demokratie wollte er bewahren, für sich und für die Menschen allgemein, das hatte er aufgeschrieben in seiner Abschlussarbeit über Faschismus in der 10. Klasse. Er war Pazifist und hasste Gewalt. Doch gegen die Nazis musste man kämpfen. Er wusste von der Lebensgefahr, die damit verbunden war, wies den Gedanken jedoch weit von sich. Er glaubte einfach nicht daran, dass ihm etwas passieren konnte.
Unter einem Baum stieg er vom Rad, seine Knickerbocker waren völlig durchnässt. Sein Regencape hatte nur seinen Oberkörper geschützt. Bisher ging alles gut. Bei diesem Wetter waren wenige Leute unterwegs, und wenn, dann im Auto. Heinz hatte es geschafft, über Holland nach Lüttich zu fahren. Ein paar Strecken mit der Bahn, den Rest mit dem Fahrrad. Die Genossen in Lüttich waren weit entfernt von Hamburg und konnten sich die Gefahren nicht ausmalen, die Heinz und seine Genossen im Auge behalten mussten. Wie schnell wird man verfolgt, verhaftet und verurteilt.
Allein diese Szene, als er in Lüttich im Lager des Sozialistischen Jugendtages ankam, machte ihm deutlich, wie wenig im Ausland von den Gefahren in Deutschland bekannt war. Wie selbstverständlich begehrte er Einlass beim Jugendtag, doch ihm wurde der Weg verstellt.
„Wir können dich ohne Ausweis für den Jugendtag nicht zulassen“, misstrauisch blickten ihn die belgischen Genossen der Sozialistischen Arbeiterjugend, der SAJ, an. Im ersten Moment war Heinz völlig perplex. Wie unbedarft die Genossen waren, vielleicht ahnungslos oder völlig einer Routine verfallen. Sie waren hier ungefährdet und für sie hatte das Treffen einen Hauch von Jugendlager, Freizeitvergnügen und Spannung. Das überraschte Heinz und verärgerte ihn. Nach seiner langen Reise hatte er einen herzlichen Empfang erwartet.
„An den Grenzen wird stark kontrolliert. Die SAJ und die SPD sind seit Juni 1933 in Deutschland verboten!“ Heinz erklärte das mit knappen Worten. Er war mit großen Erwartungen und Vorfreude hierhergekommen, jetzt spürte er das erste Mal Erschöpfung. Alles erklären, aufklären zu müssen, das hatte er am wenigsten erwartet. Wenn die mich mit meinem Mitgliedsbuch und womöglich noch einer Empfehlung für das Internationale Jugendtreffen der Sozialisten erwischten! Da kann ich mich ja gleich dem „Kommando zur besonderen Verwendung“ stellen. Diese Terrorgruppe der Nazis, mit dem Kürzel KzbV bezeichnet, hatte bereits einige Genossen fürchterlich miss handelt. Diese Gruppe der Nationalsozialisten war den wenigsten bekannt. Dass es Schlägertrupps gab, ja sicher, davon hatten alle gehört. Wahrscheinlich wäre er aber an der Grenze verhaftet worden. „Da hätte ich dann gesagt, ich fahre nach Belgien, um das Grab meines Onkels zu besuchen, das wäre bei den Nazis gut angekommen.“
Dann wurde er von Erich Lindstaedt erlöst, ein Genosse aus Hamburg, der vor den Nationalsozialisten in die Tschechoslowakei fliehen musste. Erich war Sekretär der sozialistischen Arbeiterjugend. Über Berlin, nach Prag über Österreich war der hier zum Jugendtag gekommen. „Ja, das ist Heinz Gärtner, das ist in Ordnung. Das ist einer von uns aus Hamburg.“
Heinz berichtete vom offiziellen Ende der Sozialistischen Arbeiterjugend. „Wir haben uns selbst aufgelöst. Leider mussten wir das machen. Ihr könnt Euch vorstellen, wie schwer uns das gefallen ist. Die Älteren wollten insbesondere uns jüngere Genossen schützen.“
„Wie kann man denn so etwas machen?“ Klaus, ein holländischer Genosse guckte ihn ungläubig an. „Das ist doch Verrat!“ Eine Weile schwiegen alle, blickten Heinz an oder auf den Boden.
„Wir empfanden das anfangs auch so und haben erbittert gestritten, ob wir das akzeptieren wollen. Viele machte es wütend und sie nannten es tatsächlich so wie du, als einen Verrat an der Sache und den Genossen, die sich bereits in Lebensgefahr begeben hatten. Nächtelang haben wir diskutiert.“ Heinz schilderte ausführlich die Auseinandersetzungen, insbesondere die besonders heftigen Dispute in der Gruppe aus Hamburg- Eimsbüttel und deren Entsetzen über die Selbstauflösung.
In den anderen Hamburger SAJ-Gruppen war es für die Genossen ähnlich schwer zu ertragen, dass die Arbeit in der Illegalität durchgeführt werden musste. Von der konkreten Beschreibung der illegalen Arbeit und der Fürsprache durch Erich Lindstaed ließen sich die Genossen schließlich überzeugen, dass man Heinz vertrauen konnte.
In Lüttich hatte Heinz mit Erich Lindstaedt und Koos Vorring, dem Vorsitzenden der Sozialistischen Internationale, noch ein Treffen in einem Hotel. Heinz und Erich kannten sich sehr gut aus ihrer Zusammenarbeit in Hamburg.
Erich war einer der ersten, die Hamburg verlassen mussten. Lange und ausführlich hatten sie über die politische Situation diskutiert. Es war spät geworden, und Heinz konnte nicht mehr ins Zeltlager zurück. Die drei besprachen sich, was zu tun sei. Heinz musste im Hotel übernachten, und trug sich dann vorsichtig wie er war, nicht mit seinem richtigen Namen ein. Er nannte sich Hein Langbehn aus Danzig. Er rechnete immer damit, dass die Gestapo überall auch mal zufällig herumschnüffelte. Reichspräsident Hindenburg war gerade gestorben, die Nazis waren jetzt besonders aktiv.
Der Tod des alten Reichspräsidenten hinterließ eine Lücke, in die sie gut hineinstoßen konnten. Sie waren besser vorbereitet, als alle anderen Akteure auf der politischen Bühne.
Heinz war immer sehr vorsichtig, aber an diesem Abend und in dieser Nacht wurde nicht weiter kontrolliert. Am nächsten Tag traf Heinz noch Otto Wels, den SPD Parteivorsitzenden. Wels musste nach seiner mutigen Rede im Reichstag gegen das Ermächtigungsgesetz, das den Nazis alle Macht übertrug, Deutschland verlassen. „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, aber die Ehre nicht“, hatte er ausgerufen und vehement gegen das Ermächtigungsgesetz argumentiert. Die Wahlen vom 5. März 1933 hätten eine ausreichende Mehrheit für die Regierungsparteien gebracht. Heinz bestellte Grüße aus Hamburg, von seinem Onkel und einigen Leuten, die Otto Wels persönlich kannte. Heinz war neugierig gewesen und hatte Otto nach Einzelheiten gefragt, die nicht in den Zeitungen standen. Der entscheidende Tag, an dem sich alles auflöste, was nach Demokratie aussah. „Wieso seid ihr eigentlich der Farce nicht ferngeblieben? Warum hat die Öffentlichkeit alles hingenommen?“ Heinz hatte das mehr aus Verzweiflung über die schnelle Resignation der Sozialdemokraten gefragt, weniger um wirklich etwas Neues zu erfahren.
Wels antwortete nicht gleich. Man merkte ihm an, wie schwer ihm eine Erklärung fiel. „Als Hitler am 23.3.1933 den Reichstag einberief um sein ,Ermächtigungsgesetz’ verabschieden zu lassen, waren bereits viele Sozialdemokraten der Reichstagsfraktion verhaftet worden. Von 120 waren wir nur noch 94 Abgeordnete. Außerdem war die Fraktion der Kommunisten mit 81 Abgeordneten von vornherein ausgeschlossen worden. Jemand musste die Stimme erheben.“
„Aber jedem musste doch klar sein, dass Hitler nur seine Gewalttaten legalisieren lassen wollte!“ Nun hatte Heinz doch angefangen zu diskutieren.
„Wir hatten noch die Hoffnung, die Katholiken zu gewinnen und dass das Zentrum gegen das Gesetz stimmt. Aber Ludwig Kaas als Führer dieser Partei hat versucht, seine Kirche zu retten. Ich hatte am Abend vor der Abstimmung noch mit ihm gesprochen. Es war deprimierend. Er hat tatsächlich geglaubt, dass er mit seiner Kirche verschont bliebe.“ Wels lacht kurz auf. „Er hat wirklich gedacht, er könne sich auf Hitlers Wort verlassen. Nein, nein, wir mussten dennoch Stellung beziehen. Es war unerträglich. Du musst dir vorstellen, wie wir uns den Weg durch die uniformierten Hitlerverbände bahnen mussten.
Sie schrien uns an:“Wir wollen das Gesetz, sonst gibt es Mord und Totschlag!“. Heinz konnte die Wut in Ottos Gesicht sehen. „Auch im Sitzungsaal: Überall uniformierte Versallen Hitlers.“
„Aber Hitler hatte doch nie die Mehrheit im Parlament“, warf Heinz ein. „Jedenfalls nicht mit der NSDAP allein.“
„Das stimmt wohl, er konnte seine Ziele Anfangs nur mit den Deutschnationalen und dem Pressezaren Hugenberg durchsetzen. Das waren dieselben, die mit ihrer Dolchstoßlegende die Sozialdemokraten als Vaterlandsverräter gebrandmarkt hatten. Hitler war es ja wichtig, den Staat von innen heraus zu übernehmen. Allerdings gelang das nur mit dem Terror und der Gewalt des Nazi-Gesindels auf den Straßen, das dem Volk dann anschließend Sicherheit vor Unruhen anbot. Ein beliebtes Spiel von Faschisten und Diktatoren.“
„Das ist es ja, was ich nicht verstehe. Jeder der lesen kann, jeder der die Politik verfolgt und sich mit Hitler und den Nationalsozialisten beschäftigt, hat doch bereits spätestens 1930 erkennen müssen, was die Nationalsozialisten wollen. Die Einführung einer Diktatur und dass Hitler den Krieg will!“
„Heinz, das haben nur wenige erkannt. Oder sie wollten es nicht sehen. Die meisten Demokraten haben sich auf Wahlen verlassen. Auch wir Sozialdemokraten.“
Nur die 94 Abgeordneten der SPD stimmten im Reichstag gegen das Ermächtigungsgesetz, mit dem Hitler zunächst vier Jahre Regierungsausübung ohne Parlament
für seine Diktatur wollte. Nur 94 Abgeordnete, die den Mut hatten, mit Nein zu stimmen. Alle anderen Parteien stimmten zu, obwohl Wels noch an die Menschlichkeit, die Gerechtigkeit und die Freiheit appelliert hatte. Die Nationalsozialisten hatten ihn ausgelacht. Hasserfüllt war Hitler noch einmal ans Rednerpult getreten. Als Konsequenz seiner mutigen Haltung musste Otto Wels Deutschland verlassen. Er war nun in Lebensgefahr gewesen.
Sie diskutierten noch eine Weile über vertane Chancen, über die Möglichkeiten, die ihnen jetzt noch blieben.
Heinz musste am nächsten Tag zurück, über Amsterdam, Antwerpen, Bremen nach Hamburg. Der Wind machte ihm zu schaffen. Dicke Regentropfen klatschten gegen seine Brillengläser. Seinen Zug würde er verpassen. Egal, es wäre nur eine kurze Strecke gewesen. Er zog den Plan mit den Jugendherbergen hervor. Das Beste daraus machen, dachte er.
Sein Rad schob er am Abend unter das Vordach einer Scheune und ruhte sich einige Stunden aus. Später hatte er die Strapazen vergessen, und erzählte seinen Eltern vom dem besten Mokka seines Lebens, den er bei Frau Vooring auf dem Rückweg von Lüttich in Amsterdam serviert bekam. Er schrieb diesen besonderen Genuss an dem Mokka auch der Anstrengung zu, den Strapazen, denen er ausgesetzt war. Überall war diese besondere Stimmung, die ihn für eine kurze Zeit die Gefahren vergessen ließ und ihm das Gefühl gab, gut aufgehoben zu sein.
Diese Strecke im Regen! Wenn er es sich recht überlegte, konnte er bei seinen Freunden dann gar nicht mehr sagen, ob es den Mokka auf dem Hin- oder Rückweg gab. Bei Freunden, bei Menschen, die so dachten und fühlten wie er, erzählte er davon auch später immer wieder. „So etwas Gutes habe ich in meinem Leben noch nicht getrunken!“ schwärmte er auch seinen Eltern vor.
Immer weiter, weiter trat er in die Pedale. In der Nähe von Antwerpen übernachtete Heinz und konnte unbemerkt seine Fahrradreifen reparieren.
Der Regen hatte aufgehört. Noch zehn Kilometer bis zur Grenze. Er musste sich beeilen, sein Urlaub ging zu Ende. An der Grenze kam er es doch ein bisschen mit der Angst zu tun. Überall marschierte die SA auf. Er entschloss sich, die Grenze tagsüber zu passieren und die Geschichte vom dem Besuch am Grab des Onkels zu erzählen. Aber es wurde nur sein Gepäck angeschaut. Zum Glück war sein Fahrradreifen wieder repariert, sodass die Grenzbeamten nichts Auffälliges bemerkten.
Heinz fuhr trotzdem die Nacht durch, da er nirgendwo mehr übernachten wollte. Wenn er müde wurde, legte er sich zwei Stunden in ein Waldstück, um kurz die Augen zu schließen. So schaffte er es ohne weitere Zwischenfälle bis nach Bremen.
Dort sackte er um sechs Uhr abends nach einer üppigen Milchsuppe in einer Jugendherberge ins Bett. Als um 22 Uhr die nächsten Schlafgesellen eintrafen, schrak Heinz hoch: „Donnerwetter, jetzt Mensch, musst du doch aufstehen, bist aber noch gar nicht ausgeschlafen.“ Völlig die Zeit vergessen, wusste er im ersten Moment nicht, wo er war, hatte das Gefühl für Raum und Zeit verloren. Aber die anderen zogen sich gerade aus, Heinz war erleichtert, dass er weiterschlafen durfte. Von Bremen aus begleitete ihn ein Genosse, sodass die Fahrt am Ende sogar ein wenig vergnüglich wurde.
Zurück in Hamburg fuhr er direkt nach Hause. Zweimal um den Wohnblock herum, um die Lage einzuschätzen. Im Hausflur spürte er die Kühle des Treppenhauses auf seiner verschwitzten Haut. Den leicht modrigen Luftzug aus dem Keller, in den er sein Fahrrad stellte. Er horchte ins Haus hinein, alles war ruhig. Dann zog er die Dünndruckseiten mit den illegalen Informationen vorsichtig aus dem Fahrradschlauch heraus und versteckte diese zwischen Zeitungen, die er vorsorglich im Kellerraum bereitgelegt hatte. Behutsam stieg er durch das von Kohlgerichten- und kaltem Ofengeruch erfüllte Treppenhaus. Normalerweise hätte er sich durch das Familienflötensignal angekündigt. Heute verzichtete er vorsorglich darauf. Seine Mutter öffnete ihm die Tür und nahm ihren Sohn zitternd in den Arm, die Oma kam aus der Küche und tätschelte ihm die Wangen. „Schön, schön“, sagte sie. Sein Vater saß im Sessel und schlief. In der Hand hatte er eine alte Spielzeugeisenbahn, von der die Farbe abgeblättert war. Heinz schaute seinen schlafenden Vater an. Die Spielzeugeisenbahn. Das muss doch die gewesen sein, mit der er nach dem Krieg gespielt hatte. Als sein Vater noch „der Onkel“ war, 1918.