Das Präsidentenhandy klingelte. Mahammad, der Präsident der sozialen Organisation, in der Narmina Geschäftsführerin war, rief sie heute Morgen bereits zum vierten Mal an. Das erste Mal erwischte er sie unter der Dusche, wo sie verzweifelt versuchte, mit den seifigen Händen Haltung zu bewahren und das Frösteln aus ihrer Stimme herauszuhalten. Sie hatte das Wasser mit ihren glitschigen Händen abgedreht und nahm nackt und nass die ersten Aufträge des Tages entgegen. Aufträge, die häufig mit ihren eigentlichen Aufgaben nichts zu tun hatten, sondern meistens mehr mit seinen Bankgeschäften. Geschäfte, die für Mahammad Sein oder Nichtsein zu bedeuten schienen. Nun musste sie sich beeilen, das Frühstück fiel aus. Ihr Fahrer wartete bereits seit einer Weile vor Ihrem Haus.
Weil es schon nach 9.00 Uhr war, hatte Narmina sich hastig von ihrem Mann und Sohn verabschiedet. Ihre Tochter Seyla schlief immer noch. Mit 21 Jahren noch unverheiratet, lebte diese kraftraubende Person zwangsläufig im Elternhaus. Narmina empfand aber zunehmend eine Unlust, Seylas Launen zu ertragen. Seyla war nicht einmal in der Lage, aufzuräumen, einzukaufen oder sich selbst etwas zu Essen zuzubereiten. Wenn es dann nichts zu essen gab, hungerte sie. Sprach Narmina sie daraufhin an, knallte sie mit den Türen oder meinte, dass ihre Mutter froh sein könne, dass sie noch nicht verheiratet sei. Nicht nur diese Übellaunigkeit und Undankbarkeit, alles wollte Narmina am liebsten aus ihrem Leben streichen. Ihren Mann Adil, ihre Tochter und ebenso ihren Sohn Dzhamil, den sie für ihren zweiten Mann hatte gebären müssen, wie sie es vor der Hochzeit versprochen hatte.
Narmina stand gern spät auf; sie liebte es, möglichst lange in der Welt der Nachtschatten für sich ganz allein zu sein oder ihren Traum zu träumen. Ihren immer wiederkehrenden Traum, der sie weit weg führte, in dem sich ihr Körper und ihre Gedanken leicht anfühlten. Das langsame Erwachen genoss sie ausgiebig, länger als es eigentlich sein durfte. Dennoch war sie nie ausgeschlafen. Auf diese Weise in den Tag zu gleiten war einfach notwendig, da sie immer erst spät einschlief, wenn die hilfreichen Tabletten endlich ihre Wirkung zeigten. Als sie in den Wagen stieg, sah sie gerade noch die Nanny ihres Sohnes in das Haus gehen. Der Wagen fuhr an; mit einem letzten Blick erfasste Narmina alles, was sie innerlich absterben ließ. Der Ort, in dem sie in einer Schutzhülle und nicht als Frau, Mutter und Ehefrau lebte. Geschweige denn als Lady, die sie noch leise in sich hörte. Ihre Fassade gestaltete sie entsprechend des Bedürfnisses ihres Ichs. Perfekt geschminkt im engen Kleid und auf hohen Absätzen. Sie unterschied sich sehr von der Frau, die ihre Tochter im Alter von 19 Jahren zur Welt brachte, nachdem sie den ihr zugedachten ersten Mann heiratete. Dann brach die Sowjetrepublik auseinander, Aserbaidschan hatte sich nach Westen orientiert; Narmina konnte und wollte sich mit der Zeit nicht mehr nur auf dieses Leben einrichten. Studieren wollte sie. Ihr Mann konnte eine gebildete Frau an seiner Seite nicht ertragen. Jedes Buch, das sie las, musste sie mit Schlägen und Demütigungen bezahlen. Eingesperrt in ihrem Zimmer studierte sie die Bücher, die sie in ihrer Kleidung versteckt ins Haus geschmuggelt hatte. Getreu den Geboten des Islams: Die Intelligenz zu nutzen und Erkenntnis zu erlangen ist nicht nur die Verpflichtung für jeden Mann sondern auch für jede Frau. Wenn sie ihm diese Regeln vorhielt, schlug er sie regelmäßig. Die Familie drängte sie zur Vernunft zu kommen. Sie sollte gehorsam sein.
Der Fahrer schlängelte sich hupend durch den Verkehr, für den es keine Regeln zu geben schien. Wer am schnellsten fuhr, am lautesten hupte oder gar die Gegenfahrbahn nutzte, hatte Vorfahrt. Der Präsident der Organisation war wieder am Telefon. Im wahren Leben war Mahammad ein Privatbankier, ein Freund vom großen Staatspräsidenten. Narmina kannte die Abhängigkeiten seit langem sehr gut. Reichtum allein machte auch hier in Baku nicht unbedingt frei. Selbst dann nicht, wenn es einem der Luxus erlaubte, einmal kurz am Wochenende nach Italien zu fliegen, um in einer Wellnessoase zu entspannen. Das machte Mahammad regelmäßig, meistens mit seiner Frau. Doch ein Fehler, ein falsches Wort konnte das alles zunichtemachen. Die Gefahr des Verlustes seiner Banklizenz trieb ihn an, alle anderen um sich herum zu kontrollieren. Doch wie kritisch sie es auch sehen wollte, die Wochenenden, an denen sich ihr Präsident erholte, waren auch die angenehmeren für Narmina. Das Telefon blieb dann für längere Zeit stumm. Der Verkehr stockte wieder einmal. Narmina wollte nun schnell an ihren Schreibtisch. Der Präsident hatte sich bei seinem letzten Anruf kurz gefasst, rief aber nun alle fünf Minuten wieder an, weil ihm noch etwas eingefallen oder etwas zu korrigieren war, was er sofort brauchte. Im Schritttempo ging es voran. Langsam senkte sich auch die Dunstglocke über Baku, die Stadt der Winde, die nicht stark genug wehten, um den Smog aufzuhalten. Sie sorgten lediglich dafür, dass der Staub, der den unzähligen Baustellen entsprang, durcheinander wirbelte und sich auf die Karosserie legte. Der Fahrer wendete den Wagen auf der sechsspurigen Straße, ließ die in den letzten Jahren neu gebauten Prachtbauten hinter sich zurück und bog in eine kleine mit Schlaglöchern übersäte Seitenstraße ein. Der Staub zwang ihn, die Wagenfenster trotz der Wärme geschlossen zu halten. Von bezahlten Entmietern zerstörte Häuser, Mauern mit abgeplatztem Putz und Bauschutt bildeten die Kulisse für die Fahrt auf Schleichwegen. Häusern, aus denen man dann rechtzeitig herauskommen musste, wenn es plötzlich nachts brannte, weil man nicht bereit gewesen war, für 30.000 Manat zu verschwinden und sich weit außerhalb der Stadt eine Wohnung zu suchen. Ihre Gedanken waren jetzt nach den Anrufen bei dem letzten Kongress, an dem auch Aydin teilgenommen hatte, der Vorgänger ihres jetzigen Bosses. Aydin hatte die Organisation aufgebaut und war mit seinem Team sehr erfolgreich gewesen. Unerwarteter Erfolg in einer Organisation, die lediglich dazu dienen sollte, den Schein sozialen Engagements eines Unternehmers zu wahren, war einigen ein Dorn im Auge. Deshalb musste Aydin seinen Job wechseln, auch sein Team wurde ausgetauscht. Nun war er die rechte Hand eines Ministers, Narmina seine Nachfolgerin geworden. Nach oben scheitern war eine angenehme Variante von möglichen Sanktionen. Diese Tage bot er Narmina eine Stelle im Ministerium an. Mit der Aussicht, das Dreifache des jetzigen Gehaltes zu verdienen. Eine kleine Verunsicherung empfand sie. Warum machte er das? Sie zog einen Wechsel manchmal in Erwägung, schließlich war das Angebot verlockend. Ein Machtspielchen vielleicht. Es wäre ein 9 bis19 Uhr Job mit guter Bezahlung. Reizvoll, aber die dritte oder vierte Position in der Linie. Sie kannte ähnliche Strukturen durch ihre langjährige Arbeit bei der Weltbank. Jetzt konnte sie viel bestimmen – aber wurde verfolgt: vom Präsidenten unter der Dusche und bis ins Schlafzimmer; von den Gedanken, die sie sich über ihre Mitarbeiter machte, wenn sie nicht bereits halbtot im Bett lag, tot in ihrer ladylike Hülle. Ja, Lady wollte sie sein, sich als Lady fühlen. Das wiederholte sie wie ein Mantra. Zehn Zentimeter hohe Absätze, enges blaues Kleid; die traurig blickenden braunen Augen, die sie morgens im Spiegel ansahen, wurden hinter der großen dunklen Sonnenbrille verborgen und die Haare streng nach hinten gebunden. Jeden Tag musste sie sich in einer Rolle beweisen, die sie eigentlich nur von 9 bis 14 Uhr spielen dürfte. Alles Weitere hatte ihr der Arzt verboten. Danach würde sie nicht erneuerbare Energie verbrauchen. Aber ihre Version, hier etwas bewegen zu können, trieb sie an. Immerhin hatte sie freie Hand, einige Leute auszuwechseln. Die Schulfreunde des Staatspräsidenten, die entfernten Onkel, ein Cousin vielleicht oder diejenigen, die in einem Versorgungsgeschäft auf Gegenseitigkeit für gute Beziehungen sorgten? Vielleicht. Dann war da noch der Spitzel im Büro. Den würde sie sicher nicht loswerden.
Als Narmina endlich im Büro eintraf, war alles ruhig, wie immer. Wie üblich saßen die Männer vor ihren PC, telefonierten oder waren noch gar nicht da. Ihre Assistentin war eine wache junge Frau, schlank, klarer Blick, zuhörend. Ähnlich verhielt es sich mit den anderen jüngeren Frauen in ihrem Büro, die alle ein wenig mehr Energie versprühten als die meisten männlichen Kollegen. Niemand hier hatte allzu große Erwartungen. Engagement wurde vorsichtig gezeigt, immer mit der Möglichkeit, auch einen Schritt zurück zu gehen. Andere waren nicht bereit, sich ohne zusätzliche Bezahlung anzustrengen und drückten ihre Demotivation mit Schweigen, Flucht in eine Krankheit oder verbal aggressiv aus. Die Arbeit mit den Mitarbeitern gestaltete sich vergleichsweise wie die Arbeit mit einem Sandhaufen. Immer wenn sich jemand, den sie aufgebaut hatte, weiter nach oben gearbeitet, gewagt hatte, gab der Sand nach.
Mittags floh Narmina, wenn es nicht zu heiß war. Hinaus auf die staubigen Straßen, hinein in den Baulärm, um in einem der kleinen Läden Früchte, Brot oder Lebensmittel zu kaufen. Von diesen Läden existierten an jeder kleinen Straßenecke welche, hunderte über die Stadt verteilt; häufig nur kleine Verschläge, wie an die Hauswand geklebt. Manchmal kaufte Narmina etwas Kuchen von einem Bäcker, der ihr das Päckchen durch ein Fenster auf die Straße hinaus reichte. Ein kurzes Stück weiter standen vier Bänke vor zwei Tischen im Sonnenschein vor einem scheinbar baufälligen Gebäude. Darin befand sich ein Restaurant mit überraschend annehmbarer Küche. Ein paar Mal hatte sie dort schon in der Sonne gesessen. Hin und wieder verschaffte sie sich auch Platz, indem sie ihr rotes Kleid anzog. Die Macht dieser Farbe schüchterte ein, das hatte sie schnell erkannt. Dabei liebte sie dieses Kleid einfach, weil sie sich wohl darin fühlte und es nicht als Botschaft ansah. Gut, wenn es außerdem nützlich war, um ihre Fassade zu schützen, wenn sie erschöpft war. Manchmal hing Narmina dann einem Tagtraum nach, allein mit sich zu sein, das salzige Meer zu riechen, allem aus dem Wege zu gehen, ihrer Familie, ihrem Chef, ihren Gedanken, ihrer Tochter, die sich weigerte im Haushalt zu helfen. Die aus ihrem Leben nichts machte, nicht für die Uni lernte, vor sich hinlebte. Dabei durfte sie alles, was Narmina nicht durfte. Der Sohn, den sie für ihren Mann geboren hatte, war für sie nicht leicht erreichbar. Vater und Sohn erlebten viel gemeinsam, spielten am Computer oder guckten Football. Wenn ihr Mann nicht vor dem TV- Gerät saß, chattete er auf Facebook oder spielte am PC. Drei Kinder habe ich zuhause, dachte sie. Ihr Mann hatte die Zeit, die ihr fehlte. Als selbständiger Rechtsanwalt war er nicht ausgelastet, auch, weil er überwiegend für die politische Opposition arbeitete. Seine wohlhabende Familie hatte ihn nach der Heirat enterbt und von den Privilegien der Oberschicht ausgeschlossen. Er musste das Apartment verlassen, in dem er gelebt hatte, verlor sein Auto und seinen Anteil am Familienvermögen. Als er Narmina kennenlernte, war er ein reicher Mann gewesen. Er konnte sich damals alles leisten und lebte im unbeschwerten Luxus. Jetzt war er nicht einmal mehr in der Lage, seine Familie zu ernähren. Er kann mich nicht beschützen, also muss ich arbeiten, dass sagte sie sich klar. Es musste Liebe gewesen sein, anders war es nicht zu erklären, dass er diese Schande auf sich nahm. Man heiratete keine geschiedene Frau mit Kind. Und damit den Verlust seines Vermögens in Kauf zu nehmen, ja das war wohl Liebe. Aber Liebe hält nicht ewig, wenn Status und Einkommen verloren gehen.
In dieses Zuhause machte sich Narmina am Abend auf den Weg. Es war bereits nach 19.00 Uhr und der Fahrer hatte es jetzt leichter, da der Verkehr um diese Zeit bereits abgeebbt war. In der Ferne leuchteten die drei im Lichtspiel entflammten Hochhäuser in der Nähe der Promenade, davor glitzerten die mit wechselnden Farben illuminierten Wasserspiele. Starbucks, KFC, McDonald’s ergänzten diese Fassade. Mit Ihrem Chef am Ohr betrat sie das Haus. im Halbdunkel flimmerte der Bildschirm, auf zwei Stühlen verteilt hingen die Trikots zweier Footballmannschaften. Ein paar halbvolle Teller mit Resten des Abendessens und Schalen mit Nüssen standen auf dem Tisch. Narmina hasste das. Die Nanny war jetzt 65 Jahre alt, sie konnte nicht mehr richtig sauber machen. Und der war es egal, das wusste sie. Für Dzhamil war die Nanny die richtige Mutter. Sie war seit 12 Jahren jeden Tag für ihn da, spielte mit dem Jungen, kochte für ihn seine Lieblingsgerichte. Würde man sie entlassen, käme sie nicht einmal mehr zu Besuch. Also machte Narmina selbst sauber. Klebrigkeit und Schmutz, selbst in kleinen Dosen, ertrug sie nicht. Ihr Mann machte nichts. Sie hatte ihn einige Male zum Einkaufen losgeschickt, mit dem Ergebnis, dass er sie öfter aus dem Laden anrief und nachfragte, welche Milch er denn mitbringen solle, wie viel Fett die haben solle und welchen Reis er nehmen müsse. Jedes zweite Wochenende fuhr er zu seiner Mutter. Mit seinem Sohn. Narmina durfte nie mit. Die Schwiegermutter arbeitete konsequent darauf hin, dass ihr Sohn sich von ihr scheiden ließ. Mit seinen gerade einmal 40 Jahren wäre er noch jung genug, um es sich dann mit Hilfe des Familienvermögens leisten zu können, mit einer Jungfrau eine neue Familie zu gründen. Sie genoss es aber auch, allein zu sein, aber immer begleitet von dieser Spur Gift. Nach der Hausarbeit am Samstagabend duschte sie, nahm ihre Tabletten und versuchte danach zu schlafen. Wenn sie Glück hatte, träumte sie dann ihren Traum. Wie im Himmel erfüllt von einer Schwerelosigkeit. Befreit von Irdischem. Vielleicht wie im Tod bei vollem Bewusstsein, im Jenseits verschmolzen mit dem Universum. In einem Raum, der nach aller Existenz kommen soll. Ganz nah bei Gott, ohne tot zu sein. Bei sich, im blauen Meer am Bosporus. Allein, ohne Familie. Sie vermisst nichts, ist in diesem Traum einfach sie selbst und kann ihre Wirklichkeit gestalten. Keine Kinder, kein Mann, keine Schwiegermutter. Eine kleine Wohnung und Zeit, ein Buch am Strand zu lesen. Sie ist selbst überrascht, wie leicht sie dieser Gedanke macht, in einer anderen Zeit an einem anderen Ort nichts zu vermissen. Das Telefon klingelte. Es war Adil.
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