Der Schatten vom Dachboden

Der lange Schatten auf dem Dachboden

Notizen von Felix: Die Geschichte mit dem Handbeil.

Worum es geht? Um alles Große. Ich lebe schon länger als mir wahrhaftig lieb ist. Leben ist für mich zu einer Qual geworden. Ich bin Jahrgang 1912, im Juli geboren, ein Sommerkind. Dass ich so lange leben darf, liegt möglicherweise an meinen Eltern, die mir den optimistischen Namen Felix – der Glückliche – gegeben haben. Felix Ellerhusen. Realistisch betrachtet ist es selbstverständlich die Medizintechnik, die mich seit Jahren umgibt. Großartig bewegen kann ich mich heute nicht, es geht den Forschern lediglich um meinen Kopf, mein Wissen. Ich bin etwas besser dran als Stephen Hawking, der sich nur noch mit Blinzeln verständigen konnte. Meine Eltern sind schon tot und können sich nicht mit mir freuen, dass sie vielleicht doch recht hatten, mit ihrem Reich des Bösen. Vor dem sie mich früh gewarnt hatten. Aber es war zu verlockend gewesen; und ich muss sagen, das ich, obwohl ich damals nicht mit allem einverstanden, naiv war! mit den Ideen dieses „Dr. Seltsam“, der die ganze Welt beherrschen wollte, am Ende doch sehr einverstanden war. Die Lagerfeuerromantik, die Fahnen, die Musik,die Uniformen und die Aufmärsche! Der kalte Atemhauch im Winter, der verbindende Schweiß der Baukolonnen im Sommer. Ich wurde gefördert, Studium und finanzielle Unterstützung. Später wurde mir eine großzügige Wohnung zugeteilt. Ich war begeistert, zunehmend begeistert. Heute ich dem nichts mehr abgewinnen. Das lange Leben hat mich geschliffen hat. Das Schicksal setzt den Hobel an und hobelt alles glatt. Mein Handeln ist jetzt unideologisch ausgerichtet. Friss oder stirb ist meine Devise, beinahe ziellos. Ich lebe noch, hier in diesem Labor, verkabelt, halb Mensch, halb Maschine. Wie früher. Im Reich. Mensch und Maschine; Maschinenmenschen. Ein kleines Rädchen, aber immerhin ein Rädchen, ohne das nichts ging. Profit und Ideologie beherrschten die Herrscher und die Untertanen; heute, hier, eben ohne Ideologie im sogenannten Metaverse. Auch ein Reich. Ich habe alle durchlebt. II.Reich. Die Zeit nach dem III. Reich. Die Zeit zwischen den Reichen.  

Für die BRD galt bald nach dem Fall des ewigen Reiches die Unschuldsvermutung für uns alle. Große und kleine Mörder. Täter und Mitläufer. Meine Chance habe ich genutzt und mit Persil gewaschen. Persil wäscht das weißeste Weiß war das Motto eines großen Waschmittelherstellers, deshalb die „Persilscheine“ für die Nazis. Alle waren sauber und nicht dabei gewesen. So wie ich. Wie in Mehltau gebettet, legte sich eine neue Welt über die alte Welt. Es entstand eine wunderbare, amerikanische Glamourwelt. Wie Kinder staunten die Menschen – lebten und vergaßen. Das sich anbietenden Wortspiel verkneife ich mir. Im Maschinenraum der BRD trieben die alten Naziseilschaften die Republik in ihrem Sinne voran. Sie sind Wirtschaftsführer, Ministerpräsidenten und sogar Bundeskanzler geworden. Diese verschiedenen Ebenen der Seilschaften, Politiker, Nationalsozialisten, Unternehmer und Sieger-Staaten liefen aufeinander zu, als schiefe Ebene oder eine unendlich ineinander verschlungene Treppe.

Heute gibt mir die Vorstellung, dass jegliche Zeit in einem Punkt zusammenfällt, die vergangene und die zukünftige, die Inspiration, heute, im Jahr 2022 diese Geschichten zu notieren. Fraktale. Inspiriert hat mich der Angriff Russlands auf die Ukraine.

Die Motive sind bekannt, die Argumente für Kriegsführungen sind immer gleich richtig und gleich falsch. Immer eine richtige Lüge und eine falsche Lüge. Ich fabuliere auch aus Langeweile übrigens, denn die Wiederholungen langweilen letzten Endes. Es sind ausnahmslos einige klitze kleine Geschichten des kleinen Kosmos im Großen aufzuschreiben. Eine Spiegelung, eine Wiederholung zudem, unbedeutend wie alles andere, um das wir uns kümmern und Gedanken machen. Wodurch wir leiden und andere nicht leiden, unemotional, intellektuell oder aus purer Dummheit, über etwas wir nicht leiden können und loswerden möchten und leben dazu ohne langfristige Bedeutung.
Die Frage nach dem Grund für meine Notizen war gewiss nur eine rhetorische Frage an mich selbst. Die Antwort ist einfach: Geschichte wiederholt sich. Geburt, Leben, Tod. Das gilt für alle Systeme auf diesem Planeten. Viel mehr bewegte mich persönlich eine andere Frage: Kann ich nicht analog sterben? Überraschung? Das ist ein relevantes Thema – für mich. Alles ist berechnet, die Algorithmen bestimmen mein Sterben. Ich bin mir sicher, dass ich lediglich ein Experiment bin. Nein, nicht nur hier im Labor, ganz allgemein. Ich scheine demnach noch etwas wert zu sein. Für wen? Mein Wissen ist digitalisiert, meine Gene gesichert. Ich glaube, sie sind unsicher, ob da nicht doch etwas ist, was sie nicht erfasst haben. Obwohl ich lediglich ein kleines Rad bin, ja ich muss sagen, war. Oder besser: ich habe ein kleines Rad gedreht, jetzt werde ich gedreht. Ich kann mit meinem Geist reisen. Nicht  nur in die Vergangenheit. Die Zukunft ist bereits programmiert und mir, in diesem Versuchslabor, verkabelt und mit Bildern versorgt die ich bei Bedarf abrufen kann, als Simulation zugänglich. Allerdings werden mir auch Sequenzen eingespielt, die ich mir nicht aussuchen kann. Anfangs war ich geschmeichelt und an der Technik interessiert. Man – ich sage hier mal: eine bestimmte Forschungsstelle in Sachsen, ländlich abgelegen – hat mir nicht das ewige Leben versprochen. Vielmehr eine Digitalisierung meines Wissens, später meiner Emotionen. Sie wussten selbst nicht, was am Ende daraus werden würde. Man nahm an, dass die technischen Möglichkeiten alles Denkbare übertreffen würden. Denken und Emotionen eines Reichsbürgers. So ist es auch gekommen. Mein Körper ist nicht mehr wichtig, eine Hülle. Aber mein Geist, mein Intellekt, noch bin ich Zeitzeuge. Vielleicht wird man mich im Metaverse-Reich ausstellen. Vielleicht auch abschalten. Dazu später mehr.
Warum ich? Vielleicht, weil ich ein gutes Beispiel für Anpassung bin? Weil ich überlebt habe? Nicht nur die eine Seite hat ihre Überlebenden, auch die andere. Außerdem war ich nützlich, in den Jahren nach der großen Reinigung der Systeme.

Ich bewegte mich im Maschinenraum der Gesellschaft, denn ich bin Jurist geworden. Juristen können alles sein, da sie nicht unbedingt sie selbst sein müssen. Ich kann mich demzufolge jedem System anschließen. Der Vorgang der Auslegung von systemimmanenten Paragrafen ist immer gleich. Man dient den jeweiligen Herren. Ich bin ein Mann der Tat gewesen und konnte in verschiedene Rollen und Masken schlüpfen.  Am angenehmsten war es in der Zeit des Nationalsozialismus, als Adjutant des Hamburger Gauleiters Kaufmann. Ihm habe ich geholfen, Hamburg von Kommunisten, Juden und Sozialdemokraten zu säubern.
Kaufmann hatte diesen Tick, dass niemand mit der Guillotine hingerichtet werden sollte, da diese ein Instrument der bürgerlichen Revolution wäre. Also mussten wir ein Handbeil aus Lübeck besorgen. Nun ja.  Später war ich im RSHA, dem Reichssicherheitshauptamt. Dann Kriegsgefangener bei den Amis. Bis 1947. Kaufmann, der alte Lump, kam später wieder nach Hamburg. Der alte Nazi hatte sich wieder angepasst und lebte gut hier in einer bürgerlichen Umgebung.
Ich erinnere mich noch an ein Gespräch mit ihm, etwa drei Jahre nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten. Das musste 1936 gewesen sein. Da saßen ein paar Henker zusammen. Ich erinnere mich noch an das Gespräch in einer jovial gehaltenen, selbstgefälligen Atmosphäre. Kleine Leute, die plötzlich ganz groß rauskommen wollten. Anhand dieses Gesprächs zeigt sich die neue Ordnung. Alles musste „Ordnung“ sein. Auch das Töten verlangte nach Ordnung. Hier ist ein schönes Beispiel, eine Szene in Kaufmanns Büro, Nazi „Reichsstatthalter“ Hamburgs:

„Nehmen Sie doch das Handbeil, das ist ja jetzt gesetzlich zulässig.“ Max Lahts, Präsident des Strafvollzugs Amtes, einer der willigen Vollstrecker des Gauleiters Kaufmann, lächelte zu diesen Worten.

„Die Guillotine ist sicherer, wir haben noch keine Henker, die mit dem Handbeil Erfahrung haben, entgegnete der Lübecker Staatsanwalt, der gekommen war, um sich die Hamburger Guillotine auszuleihen.

„Wir sind in Hamburg schon seit 1934 erfolgreich mit dieser Methode. Sie kennen ja die Einstellung vom Reichsstatthalter Kaufmann: Die Guillotine als Überbleibsel der Revolution gehört abgeschafft. Die Todesstrafe soll mit dem Handbeil vollstreckt werden.

Gut, natürlich, grundsätzlich habe ich aus praktischen Gesichtspunkten nichts dagegen.

Wollen Sie sich aber wirklich gegen Kaufmann stellen? Der hat im Moment „Oberwasser.“

Max Lahts war sich nicht sicher, ob er seinen Vorgesetzten, seinen Gauleiter Kaufmann, der zwischenzeitlich zum Reichsstatthalter befördert worden war, überzeugen könnte.
„Sie könnten hier eine Ausnahme machen, wenn die Fachleute fehlen.“

„Gut, ausnahmsweise lässt sich das vielleicht einrichten, ich prüfe das.“
Der Lübecker Staatsanwalt bedankte sich. „Wir wollen den Kutscher Johannes Fick noch in diesem Jahr hinrichten.“
„Wenn es klappt, sollten wir noch über die Kostenübernahme sprechen. Wir müssen für den Transport zwei Mann abstellen, die Verladung dauert etwa zwei Stunden, der Aufbau drei bis vier Stunden, wenn drei geeignete Beamte mitfahren. Ach, die Maschine muss hinterher noch gereinigt werden. „Dann das Ganze retour.“

„Ich denke, die Kosten spielen keine Rolle,“ erwiderte der Staatsanwalt erleichtert ob der sich abzeichnenden Lösung.
„Wissen Sie was, bringen Sie den Mann doch einfach nach Hamburg!“ sagte Lahts.
Der Lübecker suchte Gründe dafür, das Urteil in seiner Stadt zu vollstrecken und insistierte: „Wir müssen uns auch als Juristen hier klar verhalten.“

„Eitelkeiten“, sagte Max Lahts, dem noch eine lange Karriere als Präsident des Strafvollzugs Amtes bevorstehen sollte. „Juristen überleben immer. In jedem System. Wir sollten uns hier um eine grundsätzliche Lösung kümmern. Ich werde das bei Kaufmann vortragen.“
Kaufmann hatte sich vorgenommen, in Hamburg durchzugreifen.
„Nicht mal mit der Vollstreckung von Todesurteilen kommen die in Lübeck voran.“ Er drückte seinem Adjutanten Ellerhusen ein Stück Papier in die Hand. „Hier etwas anderes. Sehen Sie zu, dass Sie der Verfasser dieser Hetzschriften habhaft werden.
„Die Kunst des Selbstrasierens, einfach lächerlich!“
Aus Überzeugung aber auch zur Erfüllung seiner Bewährungsaufgabe als Gauleiter Hamburgs nahm er sich vor, diese Stadt vorzeigen zu können. Er wollte ganz im Sinne seines Führers die Hamburger emotionalisieren. Die Gehirne der Menschen mussten ausgeschaltet werden; durch Fahnenmeere, Fanfaren, Marschkolonnen, Flammen, Fackeln, Spruchbänder und Ansprachen muss das Volk in Verzückung versetzt werden. Wie Hitler es verlangt hatte, strebte Kaufmann die Selbst Austilgung des Individuums und die permanente Besinnungslosigkeit der Massen an, um sie den Nationalsozialisten gefügig zu machen. Eine Masse, die nicht mehr darüber nachdenkt, was Recht und was Unrecht ist. Kaufmann hatte ähnliche Züge wie Hitler, beide berufliche und menschliche Versager, die ihre Konzentrationslager im Hirn auf die Menschheit übertrugen. Das KZ als Abbild des ursprünglichen Lebens, den Grund der Matrix. „Die werden wir schön rasieren,schließen Sie sich mit den Fahndungskommandos kurz. Die wissen schon, wie man den Bengels beikommt.“
Ellerhusen zögerte.
„Was befürchten Sie, Ellerhusen? Niemand wird uns je zur Verantwortung ziehen, wir halten uns an Gesetze.“ Er lachte kurz auf. „Sie wissen schon, was ich meine. Jede Zeit braucht ihr spezielles System, spezielle Leute. Das sind wir! Wir halten uns an die Gesetze und verschaffen diesen ihre Wirkung.“

Ellerhusen salutierte und trat ab.

Kaufmann blieb nervös zurück. Immer noch ließ er sich trotz seiner Uniform und hinter seinen einstudierten Gesten leicht verunsichern. Er war immer ein Verlierer gewesen. Mehrfache Schulwechsel ohne Schulabschluss, keine Fronterfahrung, obwohl er sich freiwillig gemeldet hatte, die Lehre abgebrochen. Sein Leben änderte sich, als er nach der Beteiligung an mehreren terroristischen Anschlägen Karriere in der NSDAP machte. Goebbels wird mich schon raushauen, wenn’s hier nicht gleich nach Plan läuft. Auf die tiefe Freundschaft zu Goebbels hatte er sich schon einmal verlassen können, als er im Großgau Ruhr scheiterte. Dem roten Hamburg würde er es schon zeigen.

Am nächsten Tag rief Kaufmann Ellerhusen zu sich.
„Ellerhusen, wir müssen hier in der Stadt mehr Flagge zeigen, wörtlich und im übertragenem Sinne. Ich habe letzte Woche mit einigen Unternehmern gesprochen, die stehen dem Nationalsozialismus sehr wohlwollend gegenüber. Sie wollen sich aber erst zeigen, wenn unsere Sache sicher ist. Sie sind mir verantwortlich für die kleinen Leute und für die Aktionen auf der Straße.“

Ellerhusen machte einen sehr speziellen Vorschlag. „Sie sollten mehr Präsenz und Stärke bei unseren Leuten zeigen, dann trauen diese sich auch mehr zu.“

„Genauer bitte“.

„Sie sollten bei den Folteraktionen dabei sein und vorbildlich handeln“.

„Ich soll selbst foltern?“

„Ja“.

„Ich denke darüber nach. So lasch wie die im KZ Wittmoor mit den Gefangenen umgehen, wollen wir es jedenfalls nicht einreißen lassen.“

„Unsere SA-Männer könnten als Fahndungskommandos agieren.“

„Wir dürfen das Bürgertum nicht zu sehr verschrecken, aber im Grunde haben die hohen Herren die gleiche Anschauung, da bin ich mir nach den Gesprächen sicher. Wir müssen sie langsam daran gewöhnen und noch mehr roten Terror erzeugen oder inszenieren.“ Die beiden lachten. „Übrigens“, fügte Ellerhusen an, „die Justiz drückt bei der Befreiung unserer SA-Genossen auch ein Auge zu, wenn die mal über die Stränge geschlagen haben. Ellerhusen zwinkerte linkisch mit den Augen.“ Von der Seite der Justiz haben wir nichts zu befürchten.“

„Immer nützlich, die Justiz“, bestätigte Kaufmann.

Einige Wochen später konnte Ellerhusen berichten lassen:

„Das Recht der Straße hat sich die SA in jeder Weise erkämpft, und die Roten wissen, dass in St. Georg für sie ein ungleich gefährlicheres Pflaster ist, als es etwa die Neustadt war oder gar Hammerbrook, wo sich kein SA-Mann allein sehen lassen kann, ohne angefallen zu werden. In St. Georg ist das vorbei. Die SA ist stark und wach. Wir sind auf dem richtigen Weg.“

„Ellerhusen, suchen Sie doch mal ein paar kleine Parteigenossen aus, die wir auf die Kommunistische Partei und die illegalen Gruppen ansetzen können. Ich denke da auch an Stadtteile wie Winterhude und Eimsbüttel. Reden Sie mal mit den Kampfgenossen vor Ort.“ Kaufmann schlug eine Mappe auf. „Und schauen Sie mal hier: Ein Dankesschreiben vom Reichsinnenminister. ,… danken wir Ihnen für die Gewinnung der Hamburger Kaufmannschaft und Wirtschaft. Wir freuen uns außerdem über die zunehmende Arisierung des Handels und der Produktion. Na, das ist doch was. Also bereiten Sie was vor, die Kneipen und Betriebsbesichtigungen, da können wir was verteilen.“

Welche Absurdität. Niemand fand etwas dabei. Aus heutiger Sicht ein Schauspiel.Absurditäten werden uns auch in den nächsten Szenen begleiten. Versprochen. Die Welt hat sich mittlerweile daran gewöhnt.

Hinweise: Woody Allen: Film. Dr. Seltsam, oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben.
Jens Gärtner: Die Kunst des Selbstrasierens Roman, Feldhaus Verlag

Vom Dachboden: Hamburg im Griff der Nationalsozialisten

Weiteres vom Dachboden
1935, Hamburg im Griff der Nazis. Widerstand, Helfer aus Justiz und Wirtschaft.

Seit zwei Jahren war Hamburg im Griff der Nationalsozialisten.

Das Straßenbild hatte sich entsprechend verändert. Überall Hakenkreuzfahnen,marschierende SA-Trupps, das Deutsche Jungvolk oder eine Mädelschar. „Die Fahnehoch“-Gesänge gingen den jungen Genossen der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) an die Nieren. Auch die Nazis in den Wohnblocks schränkten die Bewegungsfreiheit zunehmend ein. Es war schwieriger geworden, sich politisch zu betätigen und Informationen auszutauschen.

Es war der Gestapo durch Zufall gelungen, Widerstandsgruppen in verschiedenen Stadtteilen auf die Spur zu kommen. Die Jugendorganisation der SPD hatte beschlossen Widerstand zu leisten, nachdem die prominenten sozialdemokratischen Führer ins Ausland abgesetzt hatten. Heute saßen die Genossen in einer der der Gruppen die den Decknamen „Paul Singer“ führte. Sie saßen in Winterhude, aufgebracht bei Ernst in derWohnung. Aufgebracht – und auch bedrückt. Einige wirkten hilflos. Sie hatten gerade erfahren, dass Genossinnen und Genossen den bitteren Weg in Konzentrationslager, Gefängnisse und Zuchthäuser des Dritten Reiches antreten mussten, obwohl viele minderjährigwaren. „Ich habe hier ein Dokument von Oberstaatsanwalt Dr. Reuter.“ Walther hielt ein Stück Papier in der Hand. Er hatte es nicht mehr ausgehalten, für sich allein zu grübeln und hatte sich der Gruppe wieder angeschlossen. „Ihr alle kennt das Konzentrationslager in Fuhlsbüttel. Das muss ich Euch ja nicht mehr erklären. Ich lese das mal vor, damit ihr wisst, was auf euch zukommt. Das hat Reuther sogar an das oberste Parteigericht geschrieben:
„Im KZ Fuhlsbüttel werden, wenn Selbstmord ,feststeht‘, unter Umgehung der gesetzlich vorgeschriebenen Leichenschau usw. die Leichname der Feuerbestattung
zugeführt; alles geschieht mit Wissen und zum Teil unter Druck des Reichsstatthalters,
der in solchen Fällen die Attestierung wünscht und dadurch jedenfalls mitverantwortlich
wird. Beispiel: Wenn ich ins KZ eingeliefert und totgeprügelt werde, dann hängt
man mir im warmen Zustand noch schnell eine Schlinge um den Hals, so dass eine
Strangulationsmarke entsteht, und meine Frau bekommt dann die Mitteilung, ihr Mann
habe, offenbar unter Bewusstsein seiner Schuld, durch Selbstmord seinem Leben ein
Ende gemacht. Denn die untergeordneten Organe, die die Totprügelung direkt zu verantworten haben, finden auch noch einen Physikus, einen Arzt, der einen Totenschein aufgrund eines Befundes mit Strangulationsmarke ausstellt, dass die Todesursache offenbar Selbstmord durch erhängen ist. Gerade ist Heinz Westermann, unser ehemaliger Bürgerschaftsabgeordneter, im KZ ermordet worden. Ich hab gehört, ihm haben sie die Lungen zertreten. Der KZ-Arzt hat sich geweigert, Tod durch Lungenentzündung zu bescheinigen. Da haben sie einen SS-Arzt geholt.“ Walther hatte jetzt Schweißperlen auf der Stirn. Obwohl er bei einigen Aktionen nicht mitmachen wollte, nahm er doch wieder an Gruppenabenden teil. Die Genossen schwiegen betroffen. Dann fragte Lucie: „Woher hast du diese Informationen?“ Ihr schossen die Tränen in die Augen. Sie war in letzter Zeit immer ängstlicher geworden. Walther schwieg einen Augenblick. „Darf ich nicht sagen, aber das stimmt so“, presste er heraus. „Wir müssen weitermachen“, schlug Ernst vor. „Noch sind wir nicht im Blick der Gestapo, weil sie noch mit den Kommunisten beschäftigt sind.“ „Völlige Fehleinschätzung“, schrie Walther. „Beruhigt euch“, schrie jetzt auch Lucie. „Die Menschen müssen doch langsambegreifen, was in Deutschland vor sich geht. Wir dürfen nicht aufgeben. Die Militarisierung ist doch unübersehbar. Und wer will schon wieder Krieg?“ Sie saß in einem langen, grauen Rock auf dem Stubentisch. Lucie arbeitete als Sekretärin in der Schlosserei Braun & Lübbe am Mühlenkamp. Hin und wieder konnte sie etwas Papier mitbringen und Texte auf ihrer Schreibmaschine im Büro entwerfen. Aber auch dort war es gefährlich, jederzeit konnte sie entdeckt werden. Zu viele Überstunden fielen auf. Sie wusste selbst nicht, wie lange sie das noch durchhalten würde. „Ich möchte nicht im Kola-FU landen, ehrlich gesagt fehlt mir der Mut“. Walther

schämte sich. „Wir müssen ja keine Helden sein“, beruhigte Heinz, obwohl er nicht so dachte. „Wir haben uns entschieden, nicht mit Gewalt vorzugehen. Aber Aufklärung, das ist unsere Pflicht, finde ich“. „Dafür gehst du aber auch schon in den Knast“, entgegnete Walther. „Ich nehme es keinem übel, wenn er eine Weile nicht mehr mitmachen möchte“,Lucie strich sich mit beiden Händen durch ihre dichten braunen Locken. Sie blickte zu Boden. „So war das nicht gemeint.“ Walther setzte sich etwas aufrechter hin. „Ich finde das auch nicht angemessen, wo ich wieder dabei bin, so etwas zu sagen. Aber der Tod vom Genossen Westermann hat mich eben getroffen. Hat mir klar gemacht, was es bedeutet, Flugblätter zu verteilen und Zettel an Laternenmasten zu kleben. In jedem Treppenhaus muss man aufpassen, dass man nicht von einem Nazi erwischt wird, wenn man im fünften Stockwerk die Tarnschriften ‚Platons Nachtmahl‘ oder ‚die Kunst des Selbstrasierens‘ auslegt und zum Widerstand aufruft. Und dann sehen muss, dass man schnell wieder aus dem Haus verschwindet. Solange der Protest verdeckter war, ging es mir einfacher damit. Zettel ankleben, das war noch einfacher. Aber wenn der Weg im Treppenhaus versperrt ist, wird es eng, im wahrsten Sinne.“
„Wir können doch beides machen, subtilen Protest und mehr öffentlichen Protest. Jeder soll entscheiden, wie weit er gehen will.“ „Macht euch doch nichts vor“, warf Fritz, ein Genosse, der etwa 19 Jahre alt war. „Wenn die Gruppe auffliegt, kann doch keiner sagen, er hätte nur bei ‚Wilhelm Tell‘ in der Oper an der und der Stelle etwas lauter geklatscht, um die Nazis lächerlich zu machen und Protest zum Ausdruck zu bringen. Also ich meine, wer dabei ist, ist dabei. Wer gehen will, kann gehen. Da hat Lucie recht. Keiner ist da sauer auf den. Ich denke, die Ereignisse spitzen sich zu. Mit Wandern und Musik müssen wir weitermachen. In der Zusammenarbeit mit anderen Gruppen sollten wir noch vorsichtiger sein. Wir dürfen uns nicht gegenseitig gefährden.“ Alle blieben. Sie reichten sich die Hände. „Lasst uns jetzt die weiteren Aktionen vorbereiten“, schlug Heinz vor.
Die Henker

„Nehmen Sie doch das Handbeil, das ist ja jetzt gesetzlich zulässig.“ Max Lahts, Präsident des Strafvollzugsamtes, einer der willigen Vollstrecker des Gauleiters Kaufmann, lächelte zu diesen Worten. „Die Guillotine ist sicherer, wir haben noch keine Henker, die mit dem Handbeil Erfahrung haben, entgegnete der Lübecker Staatsanwalt, der gekommen war, um sich die Hamburger Guillotine auszuleihen. „Wir sind in Hamburg schon seit 1934 erfolgreich mit dieser Methode. Sie kennen ja die Einstellung vom Reichsstatthalter Kaufmann: Die Guillotine als Überbleibsel der Revolution gehört abgeschafft. Die Todesstrafe soll mit dem Handbeil vollstreckt werden. Gut, natürlich, grundsätzlich habe ich aus praktischen Gesichtspunkten nichts dagegen. Wollen Sie sich aber wirklich gegen Kaufmann stellen? Der hat im Moment Oberwasser.“ Max Lahts war sich nicht sicher, ob er seinen Vorgesetzten, seinen Gauleiter Kaufmann, der zwischenzeitlich zum Reichsstatthalter befördert worden war, überzeugen könnte. „Sie könnten hier eine Ausnahme machen, wenn die Fachleute fehlen.“ „Gut, ausnahmsweise lässt sich das vielleicht einrichten, ich prüfe das.“ Der Lübecker Staatsanwalt bedankte sich. „Wir wollen den Kutscher Johannes Fick noch in diesem Jahr hinrichten.“ „Wenn es klappt, sollten wir noch über die Kostenübernahme sprechen. Wir müssten für den Transport zwei Mann abstellen, die Verladung dauert etwa zwei Stun- den, der Aufbau drei bis vier Stunden, wenn drei geeignete Beamte mitfahren. Ach, die Maschine muss hinterher noch gereinigt werden. Dann das Ganze retour.“ „Ich denke, die Kosten spielen keine Rolle,“ erwiderte der Staatsanwalt erleichtert ob der sich abzeichnenden Lösung. „Wissen Sie was, bringen Sie den Mann doch einfach nach Hamburg!“ sagte Lahts. Der Lübecker suchte Gründe dafür, das Urteil in seiner Stadt zu vollstrecken und insistierte: „Wir müssen uns auch als Juristen hier klar verhalten.“

Weiterlesen „Vom Dachboden: Hamburg im Griff der Nationalsozialisten“

Auf dem Dachboden gefunden. Notizen aus dem Jahre 1986.

Juristen, Nationalsozialismus und Neonazis 1986 in Hamburg: Der Fund auf dem Dachboden.

Ich stelle diesen Text unkommentiert zur Verfügung – die Entwicklung des rechten Spektrums als Folge einer unvollkommenen Aufarbeitung der NS Verbrechen zeigt, dass Verstaubtes noch aktuell ist. Ein paar Staubkörner, aus denen weitere Verbrechen entstanden sind:

Das offizielle Geschichtsverständnis in Hamburg Stand 1986

In einer Stadt, in der ausländerfeindliches Denken bereits tödliche Konsequenzen hatte, sollte man sich bewusst machen, dass die Ausgrenzung von Minderheiten nicht von den Nationalsozialisten eingeführt wurde, sondern dass diese an die Vorurteile der Weimarer Republik anknüpfen: Vorurteile gegen Juden, Roma, Sinti, Homosexuelle und Behinderte.

Es ist nach 1945 nicht gelungen, die Ausgrenzungen zu beseitigen. Warum das in Hamburg so ist und warum dieses Auswirkungen auf die Rechtsprechung hat, werde ich im folgenden darlegen. Dabei werde ich auf die allgemeine politische Handlungsweise eingehen und im besonderen die Situation im Bereich der Justiz und der Rechtsprechung beschreiben

In seiner oben bereits erwähnten Rede betonte der damalige Bürgermeister von Dohnanyi, dass eine Geschichtsforschung keine Namen nennen solle, da Versäumtes nicht nachzuholen sei und es nicht um persönliche Schuldfindung gehe.

Das steht m.E. einer Bewusstwerdung konkreter Geschichtsereignisse im Wege und macht Geschichte abstrakt, macht weniger betroffen. Einer Bewusstwerdung konkreter Geschichte steht auch im Wege, dass z.B. kommunistische Opfer der NS-Herrschaft häufig unerwähnt blieben, wie z.B. auf der Rathausgedenktafel für die Opfer des Faschismus.

Wo die Opfer nicht genannt werden, ist es schwierig die Täter zu erkennen. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass die 1951 bundesweit verbotene VVN nach ihrer Wiederzulassung lediglich in Hamburg bis 1967 vor dem Bundesverwaltungsgericht erstreiten musste.

Der „Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg“ ist es – aufgrund unzureichender finanzieller Ausstattung – erschwert worden, zur Verdeutlichung der Geschichte beizutragen. Eine bessere Unterstützung der „Laienforscherbewegung“ wäre auch notwendig gewesen.4)

1985 hielt die Forschungsstelle selbst es nicht für möglich, ihrem Auftrag in absehbarer Zeit nachkommen zu können. Die SPD und der SPD-Senat erschwerten zum Teil die Auseinandersetzung mit der Geschichte, da das Verhältnis zu den Kommunisten und den kommunistischen Widerstandskämpfern belastet ist, was aufgrund ihrer historischen Erfahrungen sicher verständlich ist.

Eine von der Behörde für Jugend, Arbeit und Soziales in Auftrag gegebene Broschüre über das Verwaltungshandeln in der NS-Zeit wurde nicht veröffentlicht, da man mit dem Inhalt nicht konform ging.

Bereits von dem ersten Hamburger Nachkriegsbürgermeister Petersen wurde öffentlich verbreitet, in der Hansestadt sei der Faschismus humaner als anderswo gewesen, hier habe das bürgerliche Element gebremst und außerdem sei Hitler selten in Hamburg gewesen. Tatsächlich fanden 31 Führervisiten statt.

Der ehemalige Nazi-Bürgermeister Hamburgs, Krogmann, berichtete unbeanstandet, was für eine Farce die so­ genannte Entnazifizierung war. Sein Buch: „Es ging um Deutschlands Zukunft“ angefüllt mit NS-Propaganda, erschien 1976.

Der Hamburger Senat befindet 1965 in einem Gedenkbuch über die Deportation von Juden: „Die Abfertigung in Hamburg waren vergleichsweise erträglich, ja im Vergleich zu anderen Orten human. Folgende abschließende Zusammenstellung von Aussagen führender Persönlichkeiten soll das „öffentliche“ Bewusstsein in Hamburg verdeutlichen: Heinrich Heffter, erster Leiter der Forschungsstelle sah sich 1950 sogar veranlasst, die Toten aufzurechnen: „An die Zahl jener (Anm.: alliierter) Luft­ angriffe kommt die Gesamtzahl der im KZ Neuengamme gestorbenen Häftlingen nahe heran.“ Max Brauer, ehemaliger Bürgermeister nach Kriegsende, hatte, obwohl Antifaschist, keine Impulse zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit gegeben, kritisiert Skrentny.6)

Bis Anfang der 50iger Jahre kehrten weit über 90% der 1945 entlassenen nationalsozialistischen Beamten, Angestellten und Arbeiter wieder in den Staatsdienst zurück. Max Brauer gestand 1953 ein: „Die Bevölkerung wird entsetzt erkennen, welche Unsummen der Staat heute an ehemals führende Nazis zu zahlen hat.“ Die milden Urteile gegen Hamburgs prominente National­ sozialisten lösten immer wieder Proteste aus. „Es ist wohl kaum zu bestreiten, dass heute schon wieder sehr viel Mut dazu gehört, sich dazu zu bekennen, Widerstandskämpfer gewesen zu sein, dass man politisch oder gar rassistisch Verfolgter ist.“ (FDP Abgeordneter Harald Abatz 1951 in der Bürgerschaft.) Von 1956-60 war die Forschungsstelle stillschweigend stillgelegt, was erst durch Überprüfung durch den Haushaltsausschuss auffiel. Heinrich Landahl, Schulsenator erklärte 1958, eine Bücherverbrennung habe in Hamburg nicht stattgefunden (es gab zwei). Der Sozialdemokrat Walter Schmedemann, Widerstands­ kämpfer und Inhaftierter, 1961 als Gesundheitssenator: „Lebenswertes Leben sei durch die sog.Euthanasie keinesfalls vernichtet worden. Ein Hamburger Richter nannte die Opfer dieser Vernichtungspolitik leere Menschenhülsen-.“ Nicht unerwähnt lassen möchte ich die im November 1985 von der Hansestadt Hamburg in den Bundesrat eingebrachte Gesetzesinitiative zur Aufhebung eines Teils der NS-Urteile.

Justizsenatorin Leithäuser nannte als Grund für die erst 40 Jahre nach Kriegsende ergriffene Initiative die verstärkte Propaganda von Neonazis und das sogenannte Ausschwitzlügegesetz. Die Summe, der in Hamburg von der Neuregelung betroffenen Urteile ist nicht bekannt. Aus einem Aktenzeichen sei zu ersehen, dass 1.733 Fälle allein von Hamburger Sondergerichten behandelt wurden. Zahlen über den gesamten Zeitraum gäbe es nicht. Für die beteiligten Richter und Rechtsanwälte hat die Gesetzesinitiative keine Konsequenzen.

Die Hamburger Justiz und die Bearbeitung des Nationalsozialismus nach 1945

Geschichte ohne Namensnennung, wie von Hamburgs l. Bürgermeister Dohnanyi gefordert, politisch motivierte Amnestien zur Absicherung der Westintegration, Freispruch bzw. Nichtanklage von Nazigrößen, der Freispruch der NS-Justiz und die schnelle Beerdigung der politischen Auseinandersetzung über das NS-System haben ermöglicht, dass in Hamburg die Ermordung von 55.000 Menschen im Konzentrationslager Neuengamme von der Justiz nicht zur Kenntnis genommen wurde.Erst durch private Initiative des Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Buchenwald, Rudolf Gottschalk, der sich nach einem entsprechenden Strafverfahren erkundigte und Recherchen und Veröffentlichungen durch Günther Sehwarberg ist, z.B., die Geschichte der Kinder vorn Bullenhuser Damm einer breiten Öffentlichkeit bekanntgeworden. . Dem Hauptverantwortlichen, Arnold Strippel, SS-Ober­ sturmführer und Leiter des Wach-Kommandos Spaldingstraße und Bullenhuser Damm, wurde nach 1945 kein Prozess wegen der Verbrechen am Bullenhuser Damm gemacht. Erst nach o.g. Initiative wurden die Staatsanwälte tätig. Dem zuständigen Staatsanwalt Münzberg, damals 1964, 30 Jahre alt, war weder der Name Strippel bekannt, noch gab es im Staatsarchiv, noch bei der Staatsanwaltschaft Unterlagen, obwohl Strippel im sog. Hamburger-Curio-Haus-Prozeß vernommen wurde. Münzberg fand die Protokolle über den Curio-Haus-Prozeß im Keller der britischen Botschaft in Bad-Godesberg. Ich werde auf den Fall Strippel weiter unten ausführlicher eingehen.

Unwissenheit gibt es in Hamburg nicht nur in Einzelfällen. Die wichtige Frage, welche NS-Richter nach 1945 wieder in den Staats­dienst übernommen wurden, kann der Hamburger Senat nicht beantworten. Am 14.02.1985 stellte die

GAL-Fraktion der Hamburger Bürgerschaft folgende Fragen an den Hamburger Senat(Drucksache 11/3723):

NS Justiz und Verfolgung von NS-Verbrechen

  1. Der Bundestag hat festgestellt, dass der sogenannte „Volksgerichtshof“ ein „Terrorinstrument zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Willkürherrschaft“ war. Seinen Entscheidungen soll deshalb keine Rechtswirkung zukommen. Den Opfern und ihren Familien wurde Achtung und Mitgefühl bezeugt. Damit ist – 40 Jahre nach der Niederlage des Hitler­ Faschismus! – die Rehabilitierung der Opfer der NS-Justiz einen Schritt weiter vorangekommen. Die Täter sind aber auch diesmal außerhalb des Blickfelds geblieben. Wir fragen deshalb den Senat:

    Wie viele Richter, die an NS-Unrechtsurteilen beteiligt waren, haben auch nach 1945 in Hamburg als Richter gewirkt?

    1. Welche Richter sind nach 1945 nicht wieder in den Staatsdienst übernommen worden?

    2. Haben sie von Staatsseite aus irgendwelche Zahlungen erhalten oder erhalten sie immer noch? Wenn ja, welche?

    3. Wie hoch sind diese Zahlungen insgesamt?

    4. Die Entschließung des Bundestags bezüglich des sogenannten „Volksgerichtshofs“ klammert die sogenannten „Sondergerichte“ aus, so dass zu einem Teil der NS­ Unrechtsjustiz weiterhin kein grundsätzliches Wort gesprochen worden ist.

    5. Welche Urteile der „Sondergerichte“ sind- bezogen auf den Hamburger Bereich – weiterhin gültig?

    6. Ist die erwähnte Entschließung des Bundestags für den Senat jetzt der Anlass, sich auch für die Annullierung der „Sondergerichtsurteile“ einzusetzen?

  1. Die Anklage gegen Strippe! wurde im November 1983 erhoben. Die einzige noch mit NS­ Verfahren befasste Kammer des Landgerichts Hamburg prüfte darauf hin bis August 1984(!), ob die deutsche Gerichtsbarkeit anwendbar sei oder ob nach dem Überleitungsvertrag – von den Alliierten abgeschlossene Verfahren dürfen von deutschen Gerichten nicht mehr aufgenommen werden – das Verfahren nicht eröffnet werden kann. Die deutsche Gerichtsbarkeit wurde für anwendbar erklärt, Nebenkläger zugelassen. Gegen die Verfahrenseröffnung legte der Anwalt Beschwerde ein. Diese wurde im Dezember 1984- nach fünf Monaten(!) – zurückgewiesen. Zur Zeit liegt das Verfahren beim Oberverwaltungsgericht Ham­burg.

    1. Wird das Verfahren noch eröffnet?

      Wenn ja, wann?

      Wenn nein. warum nicht?

    2. Die Hamburger Gerichtsbarkeit ist seit den fünfziger Jahren in dem Ruf, NS-Verfahren zu verschleppen. ,.Biologische Amnestie“ ist hier ein Schlagwort. Wie beurteilt der Senat die Verschleppung dieses Verfahrens politisch, unter besonderer Berücksichtigung der in dieser Anfrage hinterfragten gesellschaftlichen Situation?

    3. Was gedenkt der Senat gegen die Verschleppung zu unternehmen?

Der Hamburger Senat erklärt sich nicht in der Lage, die Fragen 34.1. – 34.4. zu beantworten.

Zu den Fragen in Pkt. 35 nimmt der Senat keine Stellung, da hierfür die Gerichte zuständig seien. Tatsächlich gibt es eine personelle Kontinuität im Justizbereich Hamburgs. Ende 1952 waren in der gesamten Verwaltung Hamburgs 87 Prozent der aus dem Staats­ dienst entlassenen Nazis wieder eingestellt.

Nachfolgend gebe ich drei Beispiele:

1. Der Fall Dr. Baier

Der Kraftfahrer Erwin Junghans aus Leipzig war vier Jahre lang arbeitslos gewesen, als er 1936 als Postschaffner angestellt wurde. Im Oktober 1942 wurde er beim Luftgaupostamt in Poznan (Posen) eingesetzt. Er war damals 42 Jahre alt, seit 20 Jahren verheiratet und hatte zwei Kinder. Was veranlasste den nach 1945 Oberstaatsanwalt in Hamburg, Dr. Baier, gegen ihn die Todesstrafe zu beantragen?

„In Posen gab er seinen Arbeitskameraden gegenüber immer wieder seiner Unzufriedenheit mit den bestehen­ den Verhältnissen Ausdruck .•• und vermied es auch, den deutschen Gruß anzuwenden.“

Er habe, als ein Kollege eingezogen wurde, geäußert, „es sollten nur die hingehen, die den Krieg gewollt hätten.“ Nach einem Luftangriff auf Nürnberg soll er gesagt haben:“Und da soll man noch Heil Hitler sagen.“

Das waren Gedanken, die 1943 und 1944 unter dem Eindruck der Luftangriffe und des verlorengehenden Krieges Millionen in Deutschland hatten. Allein deshalb klagte der damalige Staatsanwalt Dr. Baier Junghans vor dem Oberlandesgericht Posen „wegen Wehrkraftzersetzung“ an. Am 20.Juli 1944 wurde Junghans gemäß dem Antrag des Staatsanwaltes Baier zum Tode verurteilt.

Dabei wurde ihm die vom Gesetz verlangte Absicht der „Wehrkraftzersetzung“ – Aktenzeichen: 2 OJs 31/44 – einfach unterstellt, da durch seine Äußerung „auch der Siegesglaube eines gefestigten Deutschen ins Wanken geraten könnte.“

Nicht einmal der oberste Nazi-Blutrichter, Freisler, bestand auf Vollstreckung dieses Urteils. Er stimmte einer Umwandlung der Todesstrafe in zehn Jahre Straf­lager zu – die freilich einem Todesurteil gleichkamen; denn aus den Straflagern gab es in den seltensten Fällen eine Rückkehr.

Den Geist dieses Gerichtes bringen auch Sätze wie dieser zum Ausdruck:

„Als Wehrkraftzersetzung ist jede Störung oder Beeinträchtigung der totalen völkischen Einsatzbereitschaft zur Erringung des Endsieges in dem uns aufgezwungenen Krieg anzusehen. die Wehrkraft oder der Wehrwille braucht nicht tatsächlich zersetzt zu sein. Es genügt vielmehr die Möglichkeit des Eintritts eines solchen Erfolges.“

Weiterlesen „Auf dem Dachboden gefunden. Notizen aus dem Jahre 1986.“