Im Café mit Mozart und Hans Zimmer

Der Abend begann mit einem ungewöhnlichen, fast surrealen Erlebnis: Mozart und Zimmer, zwei Komponisten, die Jahrhunderte voneinander trennten, fanden sich Seite an Seite in einem modernen Kino wider. Die leisen Stimmen der anderen Zuschauer, das Lichtspiel der flackernden Leinwand – all das war für Mozart faszinierend neu und zugleich beunruhigend. Er, der seine Werke in prachtvollen Opernhäusern, umgeben von dem ehrwürdigen Glanz des Adels, aufgeführt hatte, sah sich nun in einer düsteren, stillen Halle wieder, wo die Musik von unsichtbaren Lautsprechern kam, perfekt abgestimmt, aber irgendwie auch entmenschlicht.

Sie begannen den Abend mit der Vorführung von „Gladiator“, einem der berühmtesten Werke Zimmers. Die epische Geschichte, das Donnern der Schlacht, das leise Klagen der Streicher, die Zimmers Musik so meisterhaft einfing – all das überwältigte Mozart. Der Bildschirm erzählte die Geschichte, aber es war die Musik, die die Emotionen trug, die den Zuschauer in die Welt des antiken Roms hineinzog. Mozart, der so viele Jahre zuvor die Kämpfe und Triumphe seiner eigenen Zeit in Musik gefasst hatte, war tief beeindruckt von der subtilen Macht, die diese moderne Filmmusik besaß. Sie war mehr als nur eine Begleitung; sie war eine unsichtbare Hand, die das Publikum führte.

Nach der Vorstellung diskutierten die beiden, während sie über die belebten Wiener Straßen zum Theater spazierten. Mozart war überrascht von der Weise, wie Zimmers Musik die dramatischen Momente verstärkte, ohne sie zu überwältigen. Er verglich das Erlebnis mit der Wirkung seiner eigenen Ouvertüren, die das Publikum in die richtige Stimmung für das Kommende versetzen sollten. Bei „Don Giovanni“ etwa erzählte schon die Ouvertüre von der dunklen, unheilvollen Natur der Oper, lange bevor der Vorhang sich hob. Zimmer nickte anerkennend; das Konzept der musikalischen Einstimmung sei auch in der Filmmusik von größter Bedeutung.

Im Theater angekommen, setzten sich die beiden in die Samtsessel, um Mozarts „Die Zauberflöte“ zu erleben. Die lebendige Szenerie, das prunkvolle Bühnenbild und die glanzvollen Kostüme entfalteten eine ganz eigene Magie, die auch Zimmer in ihren Bann zog. Die Klarheit der Stimmen, die Einfachheit der Melodien, die dennoch von so viel Tiefe durchdrungen waren – all das machte ihm bewusst, wie sehr sich die Aufführungskunst verändert hatte, und doch, wie viel sie mit der heutigen Filmmusik gemein hatte.

Nach der Aufführung wanderten sie durch die dunkler werdenden Straßen, bevor sie in ein nahegelegenes Café einkehrten. Es war ein geschichtsträchtiges Wiener Café, dessen Wände Geschichten flüsterten, die in der Luft hingen wie der Duft des frisch gebrühten Kaffees. Mozart, noch in den Nachhall der Musik vertieft, kommentierte die Aufführung. Es war ein Verweis auf die Universalität der Emotionen, die in seiner Zeit ebenso kraftvoll gewesen seien wie in der heutigen. In „Die Zauberflöte“ habe er versucht, eine Brücke zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen zu schlagen, die Figuren in den Kosmos der Musik einzubetten und dabei eine moralische Botschaft zu übermitteln. Für ihn war Musik eine Sprache, die über Worte hinausging, die das Publikum in ihrer Vielschichtigkeit erreichen musste.

Zimmer, noch immer berührt von der Theatralik und dem handwerklichen Können, das er gerade gesehen hatte, fragte sich, wie wohl eine solche Oper heute klingen würde, wenn sie mit den Mitteln der modernen Filmmusik vertont würde. Die Tiefe und Komplexität, die Mozart in so einfache Melodien legen konnte, war für ihn faszinierend und herausfordernd zugleich. Er erzählte von seinem Experimentieren mit wiederholten Motiven in „Inception“ und wie diese Wiederholung die Struktur und das Gefühl von Träumen und Realität verwebte. Wäre es möglich, fragte er sich laut, eine solche Technik auf eine Oper wie „Die Zauberflöte“ anzuwenden? Die Frage blieb offen im Raum stehen, während Mozart darüber nachdachte, wie seine Musik wohl mit digitalen Synthesizern und orchestralen Klangfarben klingen würde, die über seine kühnsten Vorstellungen hinausgingen.

Das Gespräch kehrte immer wieder zu der Frage zurück, was Musik leisten müsse. Mozart glaubte fest daran, dass Musik nicht nur unterhalten, sondern auch erziehen und erleuchten sollte. Seine Werke sollten die menschliche Natur spiegeln, ihre Schwächen und Stärken gleichermaßen enthüllen. Zimmer wiederum sah die Aufgabe der Musik darin, die narrative Struktur zu stützen, die emotionalen Tiefen eines Films zu ergründen und die Zuschauer auf eine Reise mitzunehmen, die über das Offensichtliche hinausging.

Was sie vereinte, war ihr unermüdlicher Drang, das Publikum zu bewegen – sei es durch die Klarheit und Schönheit einer Arie oder die unaufdringliche, aber allgegenwärtige Präsenz eines musikalischen Themas im Film. Sie erkannten, dass die Essenz dessen, was Musik bedeutete, sich nicht verändert hatte. Es war die Kraft, die im Unausgesprochenen lag, in den Pausen zwischen den Noten, im Schweigen, das manchmal lauter sprach als jeder Klang.

Mozart, dessen Geist noch immer von der Flut neuer Eindrücke bewegt war, überlegte, wie er heute schreiben würde. Vielleicht würde er sich in die komplexen Klangwelten stürzen, die Zimmer in seinen Filmen erschuf, vielleicht aber auch die Einfachheit wahren, die ihn stets auszeichnete. Zimmer hingegen fragte sich, wie er in Mozarts Zeit komponiert hätte – ohne die technischen Möglichkeiten von heute, aber mit dem tiefen Wissen um die Wirkung von Klang und Stille.

Schließlich, als die Nacht über Wien hereingebrochen war und das Café von einem gedämpften, warmen Licht erfüllt wurde, schwiegen die beiden. Es war ein Schweigen, das von tiefem Respekt und einem gemeinsamen Verständnis erfüllt war. Die Unterschiede zwischen ihren Zeiten und Methoden schienen in diesem Augenblick unwichtig. Was zählte, war die Musik – das ewige Bindeglied, das ihre Welten miteinander verknüpfte, das sie beide immer wieder aufs Neue herausforderte und erfüllte.

Corona und Molière

Corona und Molière

Sommercafe. Alle Sonnenschirme sind aufgespannt, eine Idylle, jenseits von Kriegen, Wasserknappheit, Waldbränden. Es ist voll, Stühle werden geschoben, man rückt sich auf die Pelle, ein wenig Mallorca muss wohl sein. Ein sich jung fühlender Rennradfahrer um die Siebzig, in entsprechendem Outfit platziert sein Rennrad zwischen den Tischen. Viele ältere Herrschaften. Nachkriegskinder und Boomer. Auf laut gestellt Mobilphone. Jeder will hören und gehört werden. Sehen und gesehen werden. Es ist laut. Der Lärm der Zeit überspielt die Auflösung der Gewissheiten. Alles Leben hier hat sicherlich einen tieferen Sinn. Dennoch: Wozu das alles? Ich weiß es nicht. Corona müsste hier irgendwo herumschwirren, ist aber nicht in Sichtweite. Schade. Mittlerweile bin ich in der Lage, die Dialoge mit ihr zu führen, ohne dass sie da ist. Zur Frage des Sinnhaften einer Situation oder eines Lebensstils schlechthin kann sie immer etwas sagen. Sie, die sich ständig anpasst und wandelt, die Veränderungen des menschlichen Seins antizipiert. Sie weiß sicher, wie alles enden wird. Sie verrät es auch mir nicht. Möglicherweise bin ich ihr Versuchsobjekt. Ihr spezielles „Virus“
Wenn man ein Virus oder ein Tier wäre, müsste man sich nicht mit dem Sinn des Lebens beschäftigen, würde sie vielleicht einleitend sagen. Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, jetzt allein, gefangen in den Windungen meiner eigenen Überlegungen. Der Fuchs im Wald, der in der Dämmerung umherstreift, lebt einfach, ohne sich zu fragen, warum er existiert. Er kennt keine Zweifel, keine existenziellen Fragen, die ihn quälen. Aber ich? Ich bin mit einem Verstand gesegnet – oder verflucht –, der mich immer weiter in ein unendliches Labyrinth von Fragen führt.  Dieses Denken, so sagt man, sei das größte Privileg des Menschen. Doch manchmal fühlt es sich an wie eine Bürde. Ich finde mich oft wieder in einer Spirale aus Überlegungen, aus Gleichungen und Unbekannten, die sich jeder Lösung entziehen. Wenn alles Mathematik ist, müsste es doch irgendwo eine Antwort geben. Aber je tiefer ich grabe, desto weiter scheinen die Antworten von mir entfernt zu sein.
In solchen Momenten fühle ich mich wie Alceste aus Molières „Der Misanthrope“. Alceste, dieser Mann, der die Welt verachtet, weil er ihre Heuchelei und Oberflächlichkeit durchschaut hat. Er ist ein gefährdeter Misanthrop, gefangen in seiner Verzweiflung über die menschliche Natur. Ich verstehe diese Verzweiflung, dieses Bedürfnis, sich von der Welt zurückzuziehen, weil sie so oft enttäuscht und verwirrt. Doch im Gegensatz zu Alceste habe ich etwas, das ihn nicht erlöst – oder vielleicht jemanden.

Corona. Sie ist keine Figur aus einem Theaterstück, sondern eine lebendige, faszinierende Frau, die ich regelmäßig in diesem Café treffe. Unsere Gespräche haben eine Tiefe, die mich immer wieder erstaunt. Sie ist wie ein sanfter Kontrapunkt zu meiner inneren Unruhe, eine Melodie, die meine gedankliche Kakophonie beruhigt. 
„Warum quälst du dich so?“ fragt sie mich oft, wenn wir uns gegenübersitzen, einander ansehend, als könnten wir in den Augen des anderen die Antwort finden. Ihre Stimme ist immer ruhig, ihre Augen strahlen eine sanfte Weisheit aus. Sie scheint die Welt auf eine Weise zu verstehen, die mir verborgen bleibt.
„Weil ich die Dinge verstehen will,“ antworte ich dann. „Weil ich glaube, dass es eine Lösung geben muss, wenn ich nur tief genug grabe.“
„Vielleicht ist das dein Fehler,“ sagt sie dann mit einem leisen Lächeln. „Du bist wie Alceste, der nach einer absoluten Wahrheit sucht, die es in der menschlichen Welt nicht gibt. Aber das Leben ist keine Gleichung, die du lösen kannst. Es ist ein Gedicht, das du fühlen musst.“
Molières Alceste wollte eine Welt, die seinen Idealen entspricht, eine Welt, in der alles schwarz oder weiß ist, klar und eindeutig. Doch das Leben ist komplex, voller Grautöne, voller Widersprüche. Corona erinnert mich daran, dass ich diese Widersprüche umarmen muss, anstatt gegen sie anzukämpfen. 

„Molière hätte dir gesagt,“ fährt Corona fort, „dass Alcestes Fehler nicht sein Hass auf die Heuchelei war, sondern seine Unfähigkeit, die Welt so zu akzeptieren, wie sie ist. Sein Stolz und seine Starrheit machten ihn blind für die Schönheit, die selbst in den Mängeln des Lebens zu finden ist.“
Ich schweige, während ihre Worte in mir nachhallen. Corona hat recht. Ich bin wie Alceste, gefangen in meinen Gedanken, in meinem Versuch, das Leben zu analysieren und zu verstehen, anstatt es einfach zu leben. Aber im Gegensatz zu Alceste habe ich die Wahl, einen anderen Weg zu gehen. 
„Vielleicht geht es nicht darum, das Rätsel des Lebens zu lösen,“ sage ich schließlich, „sondern es zu erleben. Vielleicht ist das die Antwort, die ich gesucht habe.“

Corona lächelt, und in diesem Lächeln liegt eine Wärme, die mich auf seltsame Weise beruhigt. Molière mag Alceste als eine tragische Figur dargestellt haben, aber vielleicht bin ich nicht dazu verdammt, sein Schicksal zu teilen. Vielleicht kann ich durch meine Gespräche mit Corona, durch das einfache Erleben des Augenblicks, einen Weg finden, die Welt zu akzeptieren, ohne sie zu verachten. 
Und so bleibe ich im Café sitzen, in tiefen Gesprächen mit der Frau, die mich immer wieder daran erinnert, dass das Leben mehr ist als eine Reihe von ungelösten Gleichungen. Es ist ein Gedicht, ein Tanz, eine Melodie – und vielleicht ist das schon die Lösung, die ich zweifelnd gesucht habe.

Appointment with Corona


A man enters a cozy café and sits down at a table. He orders a coffee when a strikingly beautiful woman enters. She carries an aura of elegance and mystique that immediately captures his attention. To his surprise, she sits down at his table.

„Good day,“ she says with a charming smile. „May I introduce myself? My name is Corona.“

The man is initially bewildered. „Like the virus?“ he asks hesitantly.

„Exactly,“ she replies, „but I’m here to talk about more than just illness. I represent the deeper meaning of what I have triggered in the world.“

He leans back, intrigued, and sips his coffee. „Then tell me more.“

Corona smiles. „You see, the world as we know it has become unbalanced in recent decades. Humanity, in its pursuit of progress and prosperity, has distanced itself from nature. Overuse of resources, pollution, and loss of biodiversity are just some of the consequences.“

„And what do you have to do with that?“ the man asks curiously.

„I am a mirror,“ she explains. „Through me, people became aware of the fragility of their lives and the vulnerability of their world. The pandemic has shown how closely we are all connected to each other and to nature. Suddenly, people had to pause, reflect, and reconsider their relationship with the environment.“

The man nods thoughtfully. „It’s true, people have begun to appreciate nature more and care about the environment. But was that really necessary?“

„Sometimes,“ Corona says gently, „a crisis is needed to bring about change. The pandemic was a wake-up call. It brought the importance of nature and our health to the forefront. People were forced to rethink their way of life and be more considerate of their surroundings.“

„And what is your wish for the future?“ the man asks.

„I hope,“ says Corona, „that people will retain the lessons they have learned. That they will continue to treat the environment responsibly and maintain the balance between progress and nature. The path to healing lies in harmony between humanity and the Earth.“

The man smiles. „That is a beautiful vision. I hope we can achieve it.“

At that moment, the space around them begins to blur, and before them appears a mighty tree. It is the Tree of Knowledge from the biblical story of Adam and Eve, the tree that conveys knowledge of good and evil.

Corona stands and looks reverently at the tree. „This is the Tree of Knowledge,“ she explains. „In the biblical story, Adam and Eve ate its fruit and thus gained awareness of good and evil. It was a moment of realization that tore them from their innocence and led them to take responsibility for their actions.“

The man gazes at the tree, fascinated. „But this knowledge also brought pain and suffering into the world,“ he says thoughtfully.

„Yes,“ Corona replies, „but it also brought the opportunity to grow and learn. Humanity had to learn to deal with the consequences of their actions, to develop, and to build a deeper connection to the world and to themselves. Just as Adam and Eve had to explore and understand the world anew after their expulsion from Paradise, people were forced by the pandemic to rethink their role in the world.“

„What can we learn from this tree?“ the man asks.

Corona smiles. „The Tree of Knowledge teaches us that true understanding comes with responsibility. The awareness of good and evil is a call to consciously reflect on our actions and consider the consequences. The pandemic has shown us that our prosperity and security are closely linked to the health of our environment and our fellow humans. We must act mindfully and responsibly to create a sustainable future.“

The man nods. „The tree reminds us that knowledge and insight are not just privileges but also obligations. We must use the lessons we learn from this crisis to create a better world.“

The vision of the tree slowly fades, but its message remains in their hearts. Corona rises and smiles at the man. „The future is in your hands. May awareness grow and change follow.“

The man remains, deeply moved and inspired by the encounter. He looks out at the world and recognizes the significance of the lessons the Tree of Knowledge and the pandemic have shown him. With a new understanding and deeper awareness, he prepares to contribute his part to healing the world.

As he stands up, a thought occurs to him. „You spoke about the balance between progress and nature,“ he says to himself. „That reminds me of the Risk Society described by the sociologist Ulrich Beck. A society constantly confronted with the unpredictable risks and side effects of its own progress.“

At that moment, Corona seems to be standing beside him again. „Exactly,“ she says. „Beck’s concept of the Risk Society describes a world in which the advances of modernity bring not only benefits but also new risks that are often global and far-reaching. The pandemic is one such risk. It has made us aware of how vulnerable our highly interconnected world is.“

The man nods. „In Beck’s Risk Society, risks are no longer just local; they affect all of humanity. Climate change, environmental destruction, and pandemics are examples of such global risks. People must learn to recognize and manage these risks.“

„That’s right,“ says Corona. „Beck emphasizes that in a Risk Society, knowledge and insight are crucial to dealing with these risks. The Tree of Knowledge symbolizes this wisdom. It reminds us that as a society, we bear the responsibility to face these challenges and make wise decisions that consider the well-being of all.“

The man looks once more at the Tree of Knowledge, its image still resonating in his mind. „We live in a time when our actions have far-reaching consequences. The pandemic has shown us that we must protect not only our health but also the health of our planet. We must learn from our mistakes and work together for a better future.“

Corona nods in agreement. „Exactly. The lessons from the pandemic and the insights of the Tree of Knowledge offer us the chance to create a sustainable and just world. A world where we understand the risks of our progress and act responsibly to protect future generations.“

With these words, Corona disappears, and the man is left with a profound insight and a clear vision for the future. He leaves the café with the determination to contribute to creating a responsible and conscious society that heeds the lessons of the past and meets the challenges of the Risk Society.


This story combines the deep insights from the biblical tale of the Tree of Knowledge with the concepts of Ulrich Beck’s Risk Society, emphasizing the responsibility that comes with understanding the global risks created by human progress.

Unsichtbar. Erinnerung an die schöne Corona

Ich habe die schöne Corona, das Virus in der Gestalt einer Frau im gepunkteten Sommerkleid, immer mal wieder im Caligo Café getroffen. Ein Cafe` am Marktplatz in Ahrensburg, einer Kleinstadt mit 35.000 Einwohnern. Ihre Anwesenheit wirkte immer zugleich beruhigend und beunruhigend, wie eine vertraute Melodie mit einem verstörenden Unterton. Sie war freundlich und interessiert, und ihre Augen funkelten häufig, wenn sie sprach und argumentierte. Im Laufe der Zeit hatte ich die Angst vor einer Ansteckung verloren. Wenn ich anderen von ihr erzählte wurde nur gelacht oder eine nachlässige Handbewegung beendete das Gespräch.

Unsere Gespräche begannen oft beiläufig, über den Geschmack des Kaffees oder das Wetter, doch schnell lenkte Corona das Gespräch in tiefere Gewässer. Die Risikogesellschaft, den Baum der Erkenntnis, diese Themen beschäftigten Sie. Eines Nachmittags, während die Sonne warm durch die Fenster schien, sprach sie über den biblischen Baum der Erkenntnis und die Vertreibung aus dem Paradies. „Die Menschheit hat daraus nicht gelernt,“ sagte sie mit einem sanften Lächeln. „Wir streben nach Wissen und Macht, ohne die Konsequenzen zu bedenken, schlussfolgerte sie.

Ihre Stimme wurde ernster, wenn sie die Gegenwart beschrieb. „Unsere Gesellschaft ist zu einer Risikogesellschaft geworden. Wir jagen dem Profit hinterher und verschwenden Ressourcen, als wären sie unendlich. Doch die Natur wehrt sich. Viren wie ich sind eine natürliche Reaktion, eine logische Schlussfolgerung.“

Ich hörte fasziniert zu, wie sie weitere Generationen von Viren voraussagte, die das Leben, wie wir es kennen, zerstören würden. „Alles wird sich auflösen,“ sagte sie, „die Gewissheit verschwinden.“ Ihr Blick schien in die Ferne zu schweifen, als sie fragte: „Wie löst man sich auf, erst innerlich und dann äußerlich? Oder umgekehrt?“

In den folgenden Wochen entwickelten sich unsere Treffen im Café zu philosophischen Exkursionen durch die Zeit und das menschliche Bewusstsein. Corona sprach über das Anthropozän, jene Ära, in der der Mensch zum dominierenden Einflussfaktor auf die Erde geworden ist. Sie erklärte, dass die biblische Geschichte vom Baum der Erkenntnis als Metapher für die menschliche Hybris zu verstehen sei: Unser Streben nach Wissen und Kontrolle hat uns aus dem „Paradies“ einer harmonischen Existenz mit der Natur vertrieben. Ideologien leben wieder auf, die Menschen werden auch im Westen auf das große Sterben vorbereitet. Darauf, dass es den Tod gibt. Syrien, Ukraine, Sudan, Kongo und Palästina rücken näher, wie wir Viren auch. Sie lächelte. „Wie ihr Euch bemüht! Philosophisch betrachtet,“ sagte sie eines Abends, als die Dämmerung das Café in ein warmes Licht tauchte, „ist das Streben nach unendlichem Wachstum und Fortschritt die zentrale Illusion unserer Zeit. Wir glauben, durch Technologie und Wissenschaft alles in den Griff bekommen zu können, doch wir verkennen die Grenzen unserer Macht. Die Risikogesellschaft, wie ich sie nenne, ist geprägt durch eine ständige Verlagerung von Risiken: Anstatt sie zu minimieren, schaffen wir neue, oft komplexere Gefahren.“

Sie sprach weiter, ihre Stimme weich und eindringlich. „Aus psychologischer Sicht führt der innere Zerfall zu einer Krise des Selbstverständnisses. Unsere Identitäten sind eng mit unseren Vorstellungen von Fortschritt und Kontrolle verknüpft. Wenn diese Illusionen fallen, verlieren wir den Boden unter den Füßen. Die Unsicherheit und Angst, die daraus entstehen, führen zu einer inneren Auflösung. Wir beginnen, an unseren Werten und Überzeugungen zu zweifeln, was in einer kollektiven Identitätskrise mündet. Die Demokratien werden zerfallen, ohne das die Zusammenhänge verstanden werden, die große Gier und die große Angst, die alles antreibt.“

Während sie sprach, schien das Café sich in einen stillen Ort der Reflexion zu verwandeln. Ihre Worte hallten in mir nach, als sie über die ökonomischen Aspekte unserer Zeit sprach. „Unser Streben nach unendlichem Wachstum ist ein fundamentaler Fehler. Unsere Wirtschaftssysteme basieren auf der Ausbeutung endlicher Ressourcen und einem kontinuierlichen Wachstum, das die planetaren Grenzen missachtet. Diese ökonomische Struktur führt zwangsläufig zu ökologischen und sozialen Katastrophen. Die Zerstörung von Lebensräumen, die Klimakrise und die Verbreitung von Krankheiten sind direkte Folgen dieser Wachstumslogik.“

Corona seufzte und legte ihre Hände auf den Tisch, als würde sie das Gewicht der Welt auf ihren Schultern spüren. „Ökologisch gesehen ist die Natur ein komplexes und empfindliches System. Viren, wie ich selbst, sind Teil dieses Systems und reagieren auf Ungleichgewichte. Die ständige Ausbeutung und Zerstörung natürlicher Lebensräume setzt Kräfte frei, die wir nicht kontrollieren können. Das Auftreten neuer Viren und Pandemien ist eine logische Konsequenz unseres Handelns.“

In diesen Momenten im Café erschien mir Corona nicht mehr nur als Bedrohung, sondern als Mahnerin und Lehrerin. Sie brachte die tieferen Zusammenhänge unserer Existenz im Anthropozän zum Vorschein und forderte uns auf, über unsere Rolle in dieser Welt nachzudenken und Verantwortung zu übernehmen.

Eines Nachmittags, als die letzten Sonnenstrahlen durch die Blätter der Bäume vor dem Fenster tanzten, fasste sie alles zusammen. „Die Auflösung beginnt zuerst innerlich. Unsere inneren Werte und Überzeugungen erodieren unter dem Druck der äußeren Krisen. Wenn wir erkennen, dass unser Lebensstil und unsere wirtschaftlichen Systeme nicht nachhaltig sind, zerbricht das Bild, das wir von uns selbst und unserer Rolle in der Welt haben. Diese innere Auflösung manifestiert sich schließlich äußerlich in sozialen und ökologischen Zusammenbrüchen.“

Sie nahm einen letzten Schluck ihres Kaffees und schaute mich an, ihre Augen voller Weisheit und Mitgefühl. „Doch es gibt auch Hoffnung,“ sagte sie leise. „Die Auflösung kann eine Chance zur Transformation sein. Wenn wir bereit sind, unsere Denkweisen und Lebensstile radikal zu ändern, können wir aus der Krise eine neue, nachhaltigere Gesellschaft formen. Dies erfordert jedoch Mut und die Bereitschaft, unbequeme Wahrheiten zu akzeptieren und daraus zu lernen.“

In diesem Moment begriff ich, dass unsere Treffen im Café nicht nur zufällige Begegnungen waren, sondern tiefe Lektionen über das Leben im Anthropozän. Corona war nicht nur ein Virus in menschlicher Gestalt, sondern ein Spiegel unserer eigenen Existenz und eine Mahnung, die Natur und unser eigenes Selbst neu zu verstehen.


Im Schatten der Café-Bäume, während der Wind sanft durch die Blätter flüsterte, erzählte Corona mir eine Geschichte, die mir das Herz zusammenzog. Sie sprach von einer Welt, in der die Menschen im Einklang mit der Natur lebten, bevor die Gier und der Hunger nach mehr sie erfassten. In dieser fernen Zeit, so erzählte sie, hatten die Menschen das Geheimnis der Harmonie entdeckt: das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen, das Bewusstsein für die Endlichkeit der Ressourcen und den Respekt vor allen Lebensformen.

Aber mit der Zeit wuchsen ihre Ambitionen. Sie bauten Städte, die in den Himmel ragten, Maschinen, die die Erde durchpflügten, und Systeme, die mehr verlangten, als die Erde zu geben bereit war. „Es war, als hätten sie das Paradies mit eigenen Händen verlassen,“ sagte Corona. „Und in ihrem Streben nach Fortschritt haben sie die grundlegende Wahrheit vergessen, dass alles miteinander verbunden ist.“

Ihr Blick wurde melancholisch, als sie von den ersten Anzeichen des Zerfalls sprach. „Die Natur begann zu reagieren. Kleine Veränderungen zuerst – ein ungewöhnlich starker Sturm hier, eine Dürre dort. Aber die Menschen sahen diese Warnzeichen nicht. Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, gefangen in ihrem eigenen Netz aus Erwartungen und Träumen.“

Mit jedem Treffen schien Corona mehr über die tieferen Zusammenhänge unserer Existenz preiszugeben. Sie sprach von den psychologischen Auswirkungen des unermüdlichen Strebens nach mehr. „Der innere Zerfall,“ sagte sie, „beginnt, wenn die Menschen ihre Verbindung zur Natur verlieren. Sie fühlen sich entwurzelt, isoliert in einer Welt, die sie selbst geschaffen haben. Ihre Identität, einst fest verankert in der Gemeinschaft und der Natur, wird fragil und brüchig.“

Corona erzählte mir von der Krise des Selbstverständnisses, die viele Menschen durchlebten. „Wenn sie erkennen, dass ihr Lebensstil auf Kosten anderer Lebewesen und künftiger Generationen geht, beginnt eine innere Auflösung. Sie zweifeln an ihren Werten, ihren Überzeugungen, an allem, was sie einst für selbstverständlich hielten. Diese Unsicherheit breitet sich aus wie ein Virus und erfasst ganze Gesellschaften.“

Ihre Worte hallten in mir nach, während ich über die ökonomischen und ökologischen Verflechtungen unserer Zeit nachdachte. „Unsere Wirtschaftssysteme,“ erklärte sie, „sind darauf ausgelegt, immer weiter zu wachsen. Aber dieses Wachstum ist eine Illusion. Es basiert auf der Ausbeutung endlicher Ressourcen, auf der Annahme, dass die Erde unendlich viel geben kann. Doch die Wahrheit ist, dass wir die Grenzen längst überschritten haben.“

Mit einem traurigen Lächeln fügte sie hinzu: „Die ökologische Krise ist keine ferne Bedrohung mehr. Sie ist hier, sie ist jetzt. Viren wie ich sind nur ein Symptom eines kranken Systems. Die Natur wehrt sich, und das Auftreten neuer Krankheiten ist nur eine der vielen Möglichkeiten, wie sie versucht, das Gleichgewicht wiederherzustellen.“

Eines Abends, als der Himmel in tiefes Blau getaucht war und die ersten Sterne zu leuchten begannen, fasste Corona ihre Gedanken in einer eindringlichen Warnung zusammen. „Die Auflösung beginnt innerlich,“ sagte sie. „Unsere Werte und Überzeugungen erodieren unter dem Druck der äußeren Krisen. Diese innere Auflösung manifestiert sich schließlich äußerlich in sozialen und ökologischen Zusammenbrüchen.“

Sie sah mich mit einem Blick an, der tief in meine Seele zu dringen schien. „Aber es gibt Hoffnung,“ sagte sie leise. „Die Auflösung kann auch eine Chance zur Transformation sein. Wenn wir bereit sind, unsere Denkweisen und Lebensstile radikal zu ändern, können wir aus der Krise eine neue, nachhaltigere Gesellschaft formen. Dies erfordert Mut und die Bereitschaft, unbequeme Wahrheiten zu akzeptieren und daraus zu lernen.“

In diesem Moment begriff ich, dass unsere Treffen im Café nicht nur zufällige Begegnungen waren, sondern tiefe Lektionen über das Leben im Anthropozän. Corona war nicht nur ein Virus in menschlicher Gestalt, sondern ein Spiegel unserer eigenen Existenz und eine Mahnung, die Natur und unser eigenes Selbst neu zu verstehen. Und so verließ ich das Café an jenem Abend mit dem Gefühl, dass ich nicht nur einem Virus, sondern einer weisenden Stimme der Natur begegnet war, die uns alle zur Umkehr und zur Besinnung aufrief.

Last X-Mas with Elon. Miniature.

“The words just fly around and find no foothold in interstellar civilization…” Ripp Corby

Last X-Mas with Elon. Miniature.

In recent months it has become increasingly clear that Christmas, Christmas Eve, would not herald the birth of the Savior, but rather his departure. Elon Musk was aware of its disturbing effect. He had worked towards this, he had prepared for this. The tree is decorated, the candles light up and are reflected in the Christmas tree balls. The song “Last Christmas, I gave you my heart” inspires Elon to create a final sound for his journey. He strides toward MarsX in his rainbow-colored spacesuit, checking his watch to send the final squeaking tweets on X before shutting down the system, leaving only simulated communications on an endless loop. It will be Day X for everyone on this planet.

Definitely, with absolute certainty the Last X-Mas. The temperatures make the seas steam, the forests glow in the firelight and the mountains shine in the reflection. The seas will meet the forests and present a unique spectacle. Elon is completely excited, singing and dancing. He forces himself to carry out the necessary checks. He reached his spaceship “X-Star of Bethlehem” with his Cybertruck in time before the systems would fail in the shimmering heat of Christmas night. The elevator takes him into the space capsule. He turns around again, waves to the robots that are sending him on a journey that no one will need in the future, waves to the distant flickering sun and the direction where he thinks Mars is.

The red-glowing planet becomes smaller in the viewing window, which is almost completely covered by posters of a red Earth and a green Mars, quickly becoming barely visible and disappearing. He tears off the Earth’s poster and reads his manifesto one last time: „The Earth must be destroyed so that the dream of Mars can live.“ Farewell humanity. The game is over. “Hello Mars, hello Trantor,” he exclaims. He is happy about the spectacle that emanates from the burning planet. “It’s all just a game,” he says to his avatar flying with him. “A little later: “Is the genetic material on board?” he asks. “It wasn’t programmed yet,” explains the avatar. Elon looks at Elon, first blankly then laughing. “There is still a lot to do before we are out of the game and become the only player. To the only Santa Clause who rules the game on Mars.” Elon enjoys the moment and then switches off the computer. “Let’s call it a day. Time for a Christmas break.” Elon gets up and goes into the hall to the guests who were watching the spectacle on a screen.

Applause.

Miniatur: X-Mas mit Elon

„Die Algorithmen fliegen nur so herum und finden keinen Halt in der interstellaren Zivilisation…“ Ripp Corby

Last X-Mas mit Elon.

In den letzten Monaten zeichnete sich immer deutlicher ab, dass Weihnachten, der Heilige Abend, nicht die Geburt des Heilands ankündigen würde, sondern dessen Abflug. Dessen verstörender Wirkung war Elon Musk sich bewusst. Darauf hatte er hingearbeitet, darauf hatte er sich vorbereitet. Der Baum ist geschmückt, die Kerzen leuchten und spiegeln sich in den Tannenbaumkugeln. Das Lied von Wham! „Last Christmas“ inspiriert Elon zu einem finalen Sound für seine Reise. Er schreitet in seinem regenbogenfarbenen Raumanzug auf die MarsX zu, schaut auf seine Uhr, um die letzten Tweeds auf X zu versenden, bevor er das System abschaltet und lediglich eine simulierte Kommunikation in einer Endlosschleife zurücklässt. Es wird für alle auf diesem Planeten der Tag X sein. Definitiv, mit absoluter Gewissheit das Last X-Mas. Die Temperaturen lassen die Meere dampfen, die Wälder im Feuerschein glühen und die Berge im Widerschein leuchten. Die Meere werden auf die Wälder treffen und ein einzigartiges Schauspiel darbieten. Elon ist völlig aus dem Häuschen, singt und tanzt. Er zwingt sich, die erforderliche Checks durchzuführen. Er hat sein Raumschiff „X-Stern von Bethlehem“ mit seinem Cybertruck rechtzeitig erreicht, bevor die Systeme in der flimmernden Hitze der Weihnachtsnacht versagen würden. Der Fahrstuhl bringt ihn in die Raumkapsel. Er dreht sich noch einmal um, winkt den Robotern zu, die ihn auf die Reise schicken, die zukünftig niemand mehr brauchen wird, winkt in die entfernt flimmernde Sonne und die Richtung, wo er den Mars vermutet.

Der rotglühende Planet wird kleiner im Sichtfenster, das von Plakaten einer roten Erde und einem grünen Mars fast gänzlich zugeklebt ist, schnell kaum noch zu sehen, verschwunden. Er reißt das Plakat der Erde ab, liest ein letztes Mal sein Manifest:“ Die Erde muss zerstört sein, damit der Traum vom Mars lebt. Leb wohl Menschheit. Das Spiel ist aus. Hallo Mars, hallo Trantor“ ruft er aus. Er freut sich über das Schauspiel, das vom verglühenden Planeten ausgeht. „Alles nur ein Spiel, sagt er zu seinem mitfliegenden Avatar“ .
Wenig später: “ Ist das Genmaterial an Bord?“ erkundigt er sich.
„Das war noch nicht programmiert,“ erklärt der Avatar. Elon schaut Elon an, erst verständnislos dann lachend.
„Es ist noch einiges zu tun, bis wir aus dem Spiel raus sind und zum einzigen Spieler werden. Zum einzigen Weihnachtsmann, der auf dem Mars das Spiel bestimmt.“
Elon genießt den Moment und schaltet dann den Computer aus. „Machen wir Schluss für heute. Zeit für eine Weihnachtspause.“
Elon steht auf und geht in die Halle zu den Gästen, die das Spektakel auf einer Leinwand verfolgt haben.

Applaus.

Corona 6. Teil. Herr Prill wandert aus.

Corona 6
Herr Prill wandert aus.

Die Plätze im Calligo-Café sind gut besetzt. Hier gibt es die feinsten Kaffeesorten im Angebot, Gebäck und Snacks dazu. Für jeden ist etwas dabei. Drinnen bestellt man wieder, wie vor Coronas Zeit, bedient wird am Tisch. Morgens ist es ein Rentner-Café, die ihre Stammplätze besetzen, mittags kommen Schüler und Büromenschen, nachmittags kommt gemischtes Publikum. Die Zeit, in der man leicht einen Platz bekam, weil alle fürchteten, sich anzustecken, ist vorüber. Die schöne Corona habe ich länger nicht getroffen. Als wäre der Gesprächsstoff ausgegangen. Sie würde vielleicht angesichts der Weltlage sagen, der alltägliche Gesprächsstoff sei zerbombt. Die Sonne strahlt am hellblauen, wolkenlosen Himmel und taucht den Platz der Kleinstadt am Rande Hamburgs in italienisches Flair. Dazu gehört die Wanderbaustelle mit Presslufthammer, Planierraupe und rätselhaften Absperrungen, die sich im Kreis zu drehen scheinen. Die Fertigstellung zögert sich auch hinaus, weil Gäste den Arbeitern immer wieder Kaffee spendieren; in der Hoffnung auf eine Ruhepause. Ein Wimmelbild auf dem Platz, Gedränge auf den Sitzplätzen unter den wenigen Schirmen. Fahrradfahrer sausen an den Tischen vorbei. In der Sonne ist es nicht lange auszuhalten, wenn man keinen geschützten Platz hat. Sonnengeschützt ist lediglich noch ein Platz auf der Bank vor dem Schaufenster des Cafés frei. Dort sitzt ein Mann in kurzen Sporthosen, in einem Bayern-München Shirt und einer abgewetzten Kappe desselben Vereines. In sich versunken, verloren in Gedanken wahrscheinlich, oder anderswo verloren.  Soll ich mich neben diesen Mann setzten? Meistens sitzen dort die Raucher, mit dem Aschenbecher neben sich auf der Bank. Alternativ die Telefonierer oder Hundehalter. Oder alles miteinander kombiniert. Hund, Handy, Zigarette. Der Mann, im alten Bayerndress aus den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts, schaut zu Boden; scheint nicht hier zu sein. Ich stehe unentschlossen, blicke mich um, sehe die schöne Corona vorbeischlendern. Als hätte sie gewusst, dass ich jetzt hier bin. Unsere Blicke treffen sich. Sie zwinkert mir zu und läuft aber weiter und hält sich dabei ihren Zeigefinger vor die Lippen. Die habe ich hier lange nicht gesehen. Es gäbe einiges zu bereden. Unser letztes Gespräch über den Baum der Erkenntnis ist bereits ein Jahr her. Wie geht es ihr wohl? Zuletzt hatten wir uns über die ungleich verteilten Lebenschancen unterhalten und die Auswirkungen der künstlichen Intelligenz. Schlägt ein Virus die künstliche Intelligenz? Weg ist sie. Ich schaue hinüber zu der Bank mit dem Bayern. Es ist heiß. Seit Wochen. Ein Platz im Schatten ist besser als „ein Platz an der Sonne“.
„Ist hier frei?“
„Ja, ja, natürlich, bitte.“

Da kommt auch schon mein Latte Macchiato. „Sitzt du hier auf der Bank?“, werde ich gnadenlos geduzt.
Ich nehme das Glas entgegen und setzte mich. Der Herr rückt ein wenig zur Seite, wobei er seinen To-go Becher in der einen Hand und einen Stoffbeutel in der anderen hält. Den Stoffbeutel legt er auf die mir abgewandte Seite, den Becher behält er in der Hand, die er auf seinem Schoß ablegt.

Ich blicke kurz in ein Gesicht, das man als „offen“ bezeichnen würde. Eventuell auch als unschuldig. Vernarbt ohne das Narben zu sehen sind.

„Sind Sie Raucher?“, frage ich sicherheitshalber.
„Nein, nein.“ Er hebt abwehrend die Hände. Dann stellt er den Kaffeebecher ab. „ich habe nie geraucht. Aber ich hatte einmal einen Freund, der hatte so dermaßen geraucht, dass er gelbe Finger hatte. Der stank wie Hölle und seine Bude ebenfalls. Der hatte noch Gardinen, die waren auch gelb. Die Wände waren mal weiß gewesen. Gelb! Nee, ich bin jetzt einundfünfzig, da fang ich doch nicht mit dem Rauchen an.“ Er schüttelt den Kopf, als wäre ich nicht richtig informiert oder Schlimmeres. Er schaut mich fragend an. „Ich frage nur, weil meistens Raucher auf den Bänken sitzen. Wenn Sie Raucher wären, hätte ich mich doch in die Sonne gesetzt.“
„Um Gottes Willen, ich rauche nicht.“
„Ich habe an meinem 40ten Geburtstag aufgehört zu rauchen“, erkläre ich mich. Ich habe einfach beschlossen, nicht mehr zu rauchen. Die einzige ultimative Methode. Ich habe beschlossen, nicht mehr zu stinken.“
„Nee, nee, genau. Ich bin ja auch Vorbild für meine Jungs“. Er nickt bestätigend heftig mit dem Kopf.
„Sie sind Bayern Fan? Oder kommen Sie aus Bayern?“ spreche ich an.Ich habe jedes Jahr Urlaub in Bayern gemacht. Ich liebe die bayrische Lebensart. Dieses ganze Ursprüngliche, die direkte Art der Menschen da und das Gemütliche. Die Menschen sind so echt und herzlich. Ich war immer mit meinen Jungs da. In Bernau am Chiemsee. Das ist immer wieder wie Heimat. Wenn wir da ankommen, fühlen wir uns gleich wie zuhause. Wir sind immer im selben Haus untergebracht. Man kann viel unternehmen. Für die Kinder ist natürlich der See ideal. Wir wandern und machen Touren mit dem Fahrrad. Die Kinder waren immer begeistert. Meine Frau hatte dazu keine Lust, als wir noch zusammen waren. Sie wollte lieber ans Meer. Mallorca oder Malediven. Nur Flausen im Kopf. Meine Frau macht Stress, weil ich mit den Kindern wegziehe und sie in Ahrensburg bleibt. Dabei hat sie unser Leben vorher auch nicht interessiert.“
„Aber jetzt?“

Er zuckt nur mit den Schultern.
„Immerhin haben Sie in Ahrensburg gewohnt und waren theoretisch erreichbar? Das hat ihr vielleicht ein sicheres Gefühl gegeben?“
„Sie hat sich nur für sich interessiert. Bin ich schön? Wie komme ich auf Insta rüber. Wie komme ich zu mehr Unterhalt. Der Richter ist schön auf sie reingefallen, was den Unterhalt betrifft. Schwamm drüber.  Ich kann auf ihre Gefühle keine Rücksicht nehmen. Der Junge, mein Jüngster war immer etwas zurück, lernbehindert würde man sagen. Das hat sie gestört. Sie hat ihn immer vor anderen Leuten versteckt. Es war für mich eine Schande. Ich habe mich für sie geschämt. Ich kann heute keine Rücksicht mehr nehmen. Jetzt bin ich 51, wie gesagt, ich wiederhole mich. Immer gearbeitet. In der Logistik. Als Facharbeiter. Wegen Corona arbeitslos geworden. Ich habe 20 Jahre lang in der Firma am Flughafen gearbeitet. Dann kam Corona. Ein verfluchtes Virus. Es hat mein Leben zerstört.“
Corona war doch lange nicht mehr hier, wende ich ein. Ich blicke mich um; sie ist nicht zu sehen.
„Wie meinen Sie das?“
Ich entscheide mich, die Frage zu überhören. Es ist nicht nachvollziehbar, dass ich die schöne Corona und ihre Schwestern getroffen hatte. Corona ist jetzt nicht mehr entscheidend für den Gang der Geschichte des Herrn Prill. Sie hat ihm jedoch den nötigen Stoß versetzt. Er will erzählen, nicht zuhören. Dass er seine Arbeit durch Corona verloren hatte, spielt eine wichtige Rolle.  Schließlich hat diese Tatsache seinem Leben eine neue Richtung gegeben. Zum Guten, wie es aussieht. Die Chance in der Krise. „Eine Abfindung gab es, eine Auffanggesellschaft, aber keine neue Arbeit. Warum nicht in Bayern neu anfangen? Ich habe entschieden, dass ich das darf. Ich liebe den Blick auf die Kampenwand. Von dem Fenster unserer Ferienwohnung „Sylvia“, in Bernau, direkt am See gelegen, ist sie gut zu sehen. Dieser weite Blick, diese Ruhe! Nicht so wie hier, ein Gewimmel, ein Durcheinander, alles unpersönliche Begegnungen. Mit den Jungs wandere ich auf die zersplitterten Gipfel. Und die Kultur. Die Inseln auf dem Chiemsee. Ich könnte den ganzen Tag damit verbringen, mit dem Boot von Insel zu Insel zu fahren. Ich genieße die Gärten der Fraueninsel. Und erst das Schloss auf der Herreninsel. In Bernau fühle ich mich zuhause. Meine Kollegen sagen, so ein Quatsch Herr Prill. Man fühlt sich dort zuhause, wo man geboren ist. Kann man nicht ganz woanders zuhause sein? Dort ist mein zuhause!“ Er nimmt einen Schluck aus seinem Becher. Seine Augen werden feucht, er trinkt, er atmet tief. Ein paar Tränen wischt er weg. Wir schauen auf den Platz, bis er weiterspricht. Er lehnt sich zurück, beugt sich vor. „Ich darf einmal in meinem Leben etwas tun, was gut für mich ist. Wenn ich in Bernau durch die Birkenallee laufe und auf die Kampenwand schaue. Die Birkenallee heißt Birkenallee, weil dort so viele Birken stehen“, erläutert er und nickt mir zu, damit ich das besser verstehe, denke ich.
„Da ziehe ich mit meinen Jungs hin. Auch wenn die Mutter weiter dagegen angeht.“ Er zerdrückt den leeren Kaffeebecher und nimmt seine geschundene Bayernmütze ab.
„Und die Jungs? Wie sehen die das?“

 „Sie sind glücklich, dass wir dorthin ziehen. Meine Jungs sind 15 und 18 Jahre alt. Der 15jährige ist durch seine Lernbehinderung sehr eingeschränkt. Meine Sorge war groß, für ihn nicht zu finden. Schließlich sollte alles organisiert sein, bis ich daran denken konnte, ernst zu machen. Für den habe ich schon eine Schule mit einer Werkklasse organisiert. Ich hatte mir das schwieriger vorgestellt. Es ging ganz einfach! Unglaublich. Ich habe ein paar Schulen angerufen und konnte mir die Schule aussuchen. Und der 18jährige kann sowieso machen, was er will. Ihm habe ich einen Ausbildungsplatz besorgt. Da kann seine Mutter nichts machen. Wir wandern aus!“ Er steht auf und drückt meine Hand. „Danke, dass Sie mir zugehört haben, ohne wie alle anderen zu sagen, dass ich bekloppt bin.“

Danken Sie der schönen Corona, lächle ich in mich hinein.

Panzerparade und Spezialoperationen

Zwischenruf Olaf Scholz:

Die Münchener Unsicherheitskonferenz der Elefanten ist zu Ende:


Schon 1967 war das der Elefantenherde klar. Aus dem Glied treten ist mit Risiken behaftet.
Deutschland steht mit seinen Panzern alleine da.
Der Kanzler antwortet sinngemäß auf die Frage, warum die anderen Ländern nicht die zugesagten Panzer liefern:
„Weiß ich doch nicht. Müssen Sie dort nachfragen“.

Zwischenruf von Sun Tzu:

Kämpfe nur, wenn Du sicher bist zu gewinnen.
Kämpfe nur, wenn Du alle Bataillone beisammen hast.

Zwischenruf von Professor Thimothy Snyder:

Europäische Imperien müssen offenbar erst Kriege verlieren, um sich weiter zu entwickeln.
Deutschland 1945, Frankreich 1962 Algerienkrieg, Portugal und Spanien Verlust der Kolonien. (Spiegel Nr. 8/2023).

Zwischenruf Heinz Gärtner, postmortem:

Ich war in Lemberg, heute Lwiw, in einem Kriegsgefangenenlager interniert. Aus unserer Sicht waren wir in Russland. Die Nationalsozialisten sahen die Ukraine nicht als russisches Gebiet an. Die Polen, Ungarn und Österreich hatten zeitweilig die Macht im Lemberg. Von 1939 bis 1942 hatten die Russen das Sagen. Das hatten Hitler und Stalin untereinander ausgemacht. (Hitler – Stalin -Pakt) Danach wurde Lemberg an das deutsche Generalgouvernement angeschlossen und fast die gesamte jüdische Bevölkerung ermordet. Das Lager habe ich ganz gut überstanden, da ich als Widerstandskämpfer ein „politischer Wehrunwürdiger“ war und schon nach eineinhalb Jahren wieder nach Hause durfte. „Nie wieder Krieg“ war unsere Überzeugung und Devise nach dem Krieg.

Frohe Weihnachten. Dialektik der Aufklärung

Frohe Weihnachten.
Dialektik der Aufklärung: Begegnung der modernen Kulturindustrie mit Adorno und
Horkheimer.
Wie doch alles verwoben ist, in dieser Weihnachtszeit.
Die Philosophen Adorno und Horkheimer treffen auf die Vertreter der modernen
Kulturindustrie Zuckerberg, Musk, Bezos und Gates.
Und die weiteren, die mit der Lüge leben: Weihnachtsgrüße an Netanyahu und Putin, der Netanyahu zu seinem rechtsextremen Ghetto-Bündnis beglückwünscht. (Ach,Trump hat noch nicht gratuliert. Der hängt mit Putin an keinem Baume, er hängt an keinem Strick, sondern an dem (Un)glauben und der Lüge der freien Republik. Frei dem Heckerlied nachempfunden). Was für eine Zeit, doch nichts ist wirklich neu, wie wir sehen. Alles ist bekannt, wir wissen, was uns erwartet. Steht es doch an der Wand geschrieben und überall in der Bibel.
Es begab sich und es begibt sich zur Weihnachtszeit. Jesus litt und leidet für die
Menschheit. Diese versetzt sich selbst wie gewöhnlich in Angst und Schrecken.
Adorno und Horkheimer, um deren Gedanken es in dieser Begegnung geht, veröffentlichten bereits 1947 die Dialektik der Aufklärung – gegen Ende der nationalsozialistischen
Herrschaft. Sie hatten die Hoffnung, dass sich quasi dialektisch Humanität auf den
Trümmern des 2. Weltkrieges entwickeln würde. Nicht zwangsläufig befürchteten sie, also warnten sie uns vor Zuckerberg, Musk, Gates, Putin und andere Gestalten: “Was eiserne Faschisten heuchlerisch anpreisen und die anpassungsfähigen Experten der Humanität naiv durchsetzen ist: die rastlose Selbstzerstörung der Demokratie”. An Zuckerberg und seinesgleichen gewandt schrieben sie 1947: “Wenn die Öffentlichkeit einen Zustand erreicht hat, indem unentrinnbar der Gedanke zur Ware und die Sprache zu deren Anpreisung wird”,
muss die Gesellschaft die Gefolgschaft versagen, da “die Steigerung (dieser)
wirtschaftlichen Produktivität – die zwar einerseits die Bedingungen für eine gerechtere Welt herstellt – andererseits aber dem technischen Apparat und den sozialen Gruppen die über ihn verfügen, eine unmäßige Überlegenheit über den Rest der Bevölkerung” verleiht.
Zuckerberg entgegnet trotzig: “Unser Vorgehen mit Falschmeldungen ist nicht, dass wir sagen, man darf nichts Falsches mehr im Internet sagen. Ich denke, das wäre zu extrem, jeder sagt mal etwas Falsches”. Auch eine Leugnung der Shoa sei ok.
Elon Musk will auf Twitter mit Fake Accounts “die Rückkehr des Bösen” ermöglichen.
Adorno und Horkheimer formulieren es 1947 – sicher in Unkenntnis von Algorithmen,Twitter, Instagram und Google – so: Die Berufung der Kulturindustrie (Google, Musk und andere) auf den eigenen
kommerziellen Charakter, dass “das Bekenntnis zur gemilderten Wahrheit, längst zu einer Ausrede geworden ist, mit der sie sich der Verantwortung für die Lüge entzieht“.
Die Lüge lebt. Alles steht geschrieben; ist geschehen und wird geschehen, wenn die Dialektik versagt.

Max Horkheimer Theodor W.Adorno. Dialektik der Aufklärung. Fischer Verlag.
Nachsatz:
Gute und dialektische Vorsätze für das nächste Jahr
.

Der Schatten vom Dachboden

Der lange Schatten auf dem Dachboden

Notizen von Felix: Die Geschichte mit dem Handbeil.

Worum es geht? Um alles Große. Ich lebe schon länger als mir wahrhaftig lieb ist. Leben ist für mich zu einer Qual geworden. Ich bin Jahrgang 1912, im Juli geboren, ein Sommerkind. Dass ich so lange leben darf, liegt möglicherweise an meinen Eltern, die mir den optimistischen Namen Felix – der Glückliche – gegeben haben. Felix Ellerhusen. Realistisch betrachtet ist es selbstverständlich die Medizintechnik, die mich seit Jahren umgibt. Großartig bewegen kann ich mich heute nicht, es geht den Forschern lediglich um meinen Kopf, mein Wissen. Ich bin etwas besser dran als Stephen Hawking, der sich nur noch mit Blinzeln verständigen konnte. Meine Eltern sind schon tot und können sich nicht mit mir freuen, dass sie vielleicht doch recht hatten, mit ihrem Reich des Bösen. Vor dem sie mich früh gewarnt hatten. Aber es war zu verlockend gewesen; und ich muss sagen, das ich, obwohl ich damals nicht mit allem einverstanden, naiv war! mit den Ideen dieses „Dr. Seltsam“, der die ganze Welt beherrschen wollte, am Ende doch sehr einverstanden war. Die Lagerfeuerromantik, die Fahnen, die Musik,die Uniformen und die Aufmärsche! Der kalte Atemhauch im Winter, der verbindende Schweiß der Baukolonnen im Sommer. Ich wurde gefördert, Studium und finanzielle Unterstützung. Später wurde mir eine großzügige Wohnung zugeteilt. Ich war begeistert, zunehmend begeistert. Heute ich dem nichts mehr abgewinnen. Das lange Leben hat mich geschliffen hat. Das Schicksal setzt den Hobel an und hobelt alles glatt. Mein Handeln ist jetzt unideologisch ausgerichtet. Friss oder stirb ist meine Devise, beinahe ziellos. Ich lebe noch, hier in diesem Labor, verkabelt, halb Mensch, halb Maschine. Wie früher. Im Reich. Mensch und Maschine; Maschinenmenschen. Ein kleines Rädchen, aber immerhin ein Rädchen, ohne das nichts ging. Profit und Ideologie beherrschten die Herrscher und die Untertanen; heute, hier, eben ohne Ideologie im sogenannten Metaverse. Auch ein Reich. Ich habe alle durchlebt. II.Reich. Die Zeit nach dem III. Reich. Die Zeit zwischen den Reichen.  

Für die BRD galt bald nach dem Fall des ewigen Reiches die Unschuldsvermutung für uns alle. Große und kleine Mörder. Täter und Mitläufer. Meine Chance habe ich genutzt und mit Persil gewaschen. Persil wäscht das weißeste Weiß war das Motto eines großen Waschmittelherstellers, deshalb die „Persilscheine“ für die Nazis. Alle waren sauber und nicht dabei gewesen. So wie ich. Wie in Mehltau gebettet, legte sich eine neue Welt über die alte Welt. Es entstand eine wunderbare, amerikanische Glamourwelt. Wie Kinder staunten die Menschen – lebten und vergaßen. Das sich anbietenden Wortspiel verkneife ich mir. Im Maschinenraum der BRD trieben die alten Naziseilschaften die Republik in ihrem Sinne voran. Sie sind Wirtschaftsführer, Ministerpräsidenten und sogar Bundeskanzler geworden. Diese verschiedenen Ebenen der Seilschaften, Politiker, Nationalsozialisten, Unternehmer und Sieger-Staaten liefen aufeinander zu, als schiefe Ebene oder eine unendlich ineinander verschlungene Treppe.

Heute gibt mir die Vorstellung, dass jegliche Zeit in einem Punkt zusammenfällt, die vergangene und die zukünftige, die Inspiration, heute, im Jahr 2022 diese Geschichten zu notieren. Fraktale. Inspiriert hat mich der Angriff Russlands auf die Ukraine.

Die Motive sind bekannt, die Argumente für Kriegsführungen sind immer gleich richtig und gleich falsch. Immer eine richtige Lüge und eine falsche Lüge. Ich fabuliere auch aus Langeweile übrigens, denn die Wiederholungen langweilen letzten Endes. Es sind ausnahmslos einige klitze kleine Geschichten des kleinen Kosmos im Großen aufzuschreiben. Eine Spiegelung, eine Wiederholung zudem, unbedeutend wie alles andere, um das wir uns kümmern und Gedanken machen. Wodurch wir leiden und andere nicht leiden, unemotional, intellektuell oder aus purer Dummheit, über etwas wir nicht leiden können und loswerden möchten und leben dazu ohne langfristige Bedeutung.
Die Frage nach dem Grund für meine Notizen war gewiss nur eine rhetorische Frage an mich selbst. Die Antwort ist einfach: Geschichte wiederholt sich. Geburt, Leben, Tod. Das gilt für alle Systeme auf diesem Planeten. Viel mehr bewegte mich persönlich eine andere Frage: Kann ich nicht analog sterben? Überraschung? Das ist ein relevantes Thema – für mich. Alles ist berechnet, die Algorithmen bestimmen mein Sterben. Ich bin mir sicher, dass ich lediglich ein Experiment bin. Nein, nicht nur hier im Labor, ganz allgemein. Ich scheine demnach noch etwas wert zu sein. Für wen? Mein Wissen ist digitalisiert, meine Gene gesichert. Ich glaube, sie sind unsicher, ob da nicht doch etwas ist, was sie nicht erfasst haben. Obwohl ich lediglich ein kleines Rad bin, ja ich muss sagen, war. Oder besser: ich habe ein kleines Rad gedreht, jetzt werde ich gedreht. Ich kann mit meinem Geist reisen. Nicht  nur in die Vergangenheit. Die Zukunft ist bereits programmiert und mir, in diesem Versuchslabor, verkabelt und mit Bildern versorgt die ich bei Bedarf abrufen kann, als Simulation zugänglich. Allerdings werden mir auch Sequenzen eingespielt, die ich mir nicht aussuchen kann. Anfangs war ich geschmeichelt und an der Technik interessiert. Man – ich sage hier mal: eine bestimmte Forschungsstelle in Sachsen, ländlich abgelegen – hat mir nicht das ewige Leben versprochen. Vielmehr eine Digitalisierung meines Wissens, später meiner Emotionen. Sie wussten selbst nicht, was am Ende daraus werden würde. Man nahm an, dass die technischen Möglichkeiten alles Denkbare übertreffen würden. Denken und Emotionen eines Reichsbürgers. So ist es auch gekommen. Mein Körper ist nicht mehr wichtig, eine Hülle. Aber mein Geist, mein Intellekt, noch bin ich Zeitzeuge. Vielleicht wird man mich im Metaverse-Reich ausstellen. Vielleicht auch abschalten. Dazu später mehr.
Warum ich? Vielleicht, weil ich ein gutes Beispiel für Anpassung bin? Weil ich überlebt habe? Nicht nur die eine Seite hat ihre Überlebenden, auch die andere. Außerdem war ich nützlich, in den Jahren nach der großen Reinigung der Systeme.

Ich bewegte mich im Maschinenraum der Gesellschaft, denn ich bin Jurist geworden. Juristen können alles sein, da sie nicht unbedingt sie selbst sein müssen. Ich kann mich demzufolge jedem System anschließen. Der Vorgang der Auslegung von systemimmanenten Paragrafen ist immer gleich. Man dient den jeweiligen Herren. Ich bin ein Mann der Tat gewesen und konnte in verschiedene Rollen und Masken schlüpfen.  Am angenehmsten war es in der Zeit des Nationalsozialismus, als Adjutant des Hamburger Gauleiters Kaufmann. Ihm habe ich geholfen, Hamburg von Kommunisten, Juden und Sozialdemokraten zu säubern.
Kaufmann hatte diesen Tick, dass niemand mit der Guillotine hingerichtet werden sollte, da diese ein Instrument der bürgerlichen Revolution wäre. Also mussten wir ein Handbeil aus Lübeck besorgen. Nun ja.  Später war ich im RSHA, dem Reichssicherheitshauptamt. Dann Kriegsgefangener bei den Amis. Bis 1947. Kaufmann, der alte Lump, kam später wieder nach Hamburg. Der alte Nazi hatte sich wieder angepasst und lebte gut hier in einer bürgerlichen Umgebung.
Ich erinnere mich noch an ein Gespräch mit ihm, etwa drei Jahre nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten. Das musste 1936 gewesen sein. Da saßen ein paar Henker zusammen. Ich erinnere mich noch an das Gespräch in einer jovial gehaltenen, selbstgefälligen Atmosphäre. Kleine Leute, die plötzlich ganz groß rauskommen wollten. Anhand dieses Gesprächs zeigt sich die neue Ordnung. Alles musste „Ordnung“ sein. Auch das Töten verlangte nach Ordnung. Hier ist ein schönes Beispiel, eine Szene in Kaufmanns Büro, Nazi „Reichsstatthalter“ Hamburgs:

„Nehmen Sie doch das Handbeil, das ist ja jetzt gesetzlich zulässig.“ Max Lahts, Präsident des Strafvollzugs Amtes, einer der willigen Vollstrecker des Gauleiters Kaufmann, lächelte zu diesen Worten.

„Die Guillotine ist sicherer, wir haben noch keine Henker, die mit dem Handbeil Erfahrung haben, entgegnete der Lübecker Staatsanwalt, der gekommen war, um sich die Hamburger Guillotine auszuleihen.

„Wir sind in Hamburg schon seit 1934 erfolgreich mit dieser Methode. Sie kennen ja die Einstellung vom Reichsstatthalter Kaufmann: Die Guillotine als Überbleibsel der Revolution gehört abgeschafft. Die Todesstrafe soll mit dem Handbeil vollstreckt werden.

Gut, natürlich, grundsätzlich habe ich aus praktischen Gesichtspunkten nichts dagegen.

Wollen Sie sich aber wirklich gegen Kaufmann stellen? Der hat im Moment „Oberwasser.“

Max Lahts war sich nicht sicher, ob er seinen Vorgesetzten, seinen Gauleiter Kaufmann, der zwischenzeitlich zum Reichsstatthalter befördert worden war, überzeugen könnte.
„Sie könnten hier eine Ausnahme machen, wenn die Fachleute fehlen.“

„Gut, ausnahmsweise lässt sich das vielleicht einrichten, ich prüfe das.“
Der Lübecker Staatsanwalt bedankte sich. „Wir wollen den Kutscher Johannes Fick noch in diesem Jahr hinrichten.“
„Wenn es klappt, sollten wir noch über die Kostenübernahme sprechen. Wir müssen für den Transport zwei Mann abstellen, die Verladung dauert etwa zwei Stunden, der Aufbau drei bis vier Stunden, wenn drei geeignete Beamte mitfahren. Ach, die Maschine muss hinterher noch gereinigt werden. „Dann das Ganze retour.“

„Ich denke, die Kosten spielen keine Rolle,“ erwiderte der Staatsanwalt erleichtert ob der sich abzeichnenden Lösung.
„Wissen Sie was, bringen Sie den Mann doch einfach nach Hamburg!“ sagte Lahts.
Der Lübecker suchte Gründe dafür, das Urteil in seiner Stadt zu vollstrecken und insistierte: „Wir müssen uns auch als Juristen hier klar verhalten.“

„Eitelkeiten“, sagte Max Lahts, dem noch eine lange Karriere als Präsident des Strafvollzugs Amtes bevorstehen sollte. „Juristen überleben immer. In jedem System. Wir sollten uns hier um eine grundsätzliche Lösung kümmern. Ich werde das bei Kaufmann vortragen.“
Kaufmann hatte sich vorgenommen, in Hamburg durchzugreifen.
„Nicht mal mit der Vollstreckung von Todesurteilen kommen die in Lübeck voran.“ Er drückte seinem Adjutanten Ellerhusen ein Stück Papier in die Hand. „Hier etwas anderes. Sehen Sie zu, dass Sie der Verfasser dieser Hetzschriften habhaft werden.
„Die Kunst des Selbstrasierens, einfach lächerlich!“
Aus Überzeugung aber auch zur Erfüllung seiner Bewährungsaufgabe als Gauleiter Hamburgs nahm er sich vor, diese Stadt vorzeigen zu können. Er wollte ganz im Sinne seines Führers die Hamburger emotionalisieren. Die Gehirne der Menschen mussten ausgeschaltet werden; durch Fahnenmeere, Fanfaren, Marschkolonnen, Flammen, Fackeln, Spruchbänder und Ansprachen muss das Volk in Verzückung versetzt werden. Wie Hitler es verlangt hatte, strebte Kaufmann die Selbst Austilgung des Individuums und die permanente Besinnungslosigkeit der Massen an, um sie den Nationalsozialisten gefügig zu machen. Eine Masse, die nicht mehr darüber nachdenkt, was Recht und was Unrecht ist. Kaufmann hatte ähnliche Züge wie Hitler, beide berufliche und menschliche Versager, die ihre Konzentrationslager im Hirn auf die Menschheit übertrugen. Das KZ als Abbild des ursprünglichen Lebens, den Grund der Matrix. „Die werden wir schön rasieren,schließen Sie sich mit den Fahndungskommandos kurz. Die wissen schon, wie man den Bengels beikommt.“
Ellerhusen zögerte.
„Was befürchten Sie, Ellerhusen? Niemand wird uns je zur Verantwortung ziehen, wir halten uns an Gesetze.“ Er lachte kurz auf. „Sie wissen schon, was ich meine. Jede Zeit braucht ihr spezielles System, spezielle Leute. Das sind wir! Wir halten uns an die Gesetze und verschaffen diesen ihre Wirkung.“

Ellerhusen salutierte und trat ab.

Kaufmann blieb nervös zurück. Immer noch ließ er sich trotz seiner Uniform und hinter seinen einstudierten Gesten leicht verunsichern. Er war immer ein Verlierer gewesen. Mehrfache Schulwechsel ohne Schulabschluss, keine Fronterfahrung, obwohl er sich freiwillig gemeldet hatte, die Lehre abgebrochen. Sein Leben änderte sich, als er nach der Beteiligung an mehreren terroristischen Anschlägen Karriere in der NSDAP machte. Goebbels wird mich schon raushauen, wenn’s hier nicht gleich nach Plan läuft. Auf die tiefe Freundschaft zu Goebbels hatte er sich schon einmal verlassen können, als er im Großgau Ruhr scheiterte. Dem roten Hamburg würde er es schon zeigen.

Am nächsten Tag rief Kaufmann Ellerhusen zu sich.
„Ellerhusen, wir müssen hier in der Stadt mehr Flagge zeigen, wörtlich und im übertragenem Sinne. Ich habe letzte Woche mit einigen Unternehmern gesprochen, die stehen dem Nationalsozialismus sehr wohlwollend gegenüber. Sie wollen sich aber erst zeigen, wenn unsere Sache sicher ist. Sie sind mir verantwortlich für die kleinen Leute und für die Aktionen auf der Straße.“

Ellerhusen machte einen sehr speziellen Vorschlag. „Sie sollten mehr Präsenz und Stärke bei unseren Leuten zeigen, dann trauen diese sich auch mehr zu.“

„Genauer bitte“.

„Sie sollten bei den Folteraktionen dabei sein und vorbildlich handeln“.

„Ich soll selbst foltern?“

„Ja“.

„Ich denke darüber nach. So lasch wie die im KZ Wittmoor mit den Gefangenen umgehen, wollen wir es jedenfalls nicht einreißen lassen.“

„Unsere SA-Männer könnten als Fahndungskommandos agieren.“

„Wir dürfen das Bürgertum nicht zu sehr verschrecken, aber im Grunde haben die hohen Herren die gleiche Anschauung, da bin ich mir nach den Gesprächen sicher. Wir müssen sie langsam daran gewöhnen und noch mehr roten Terror erzeugen oder inszenieren.“ Die beiden lachten. „Übrigens“, fügte Ellerhusen an, „die Justiz drückt bei der Befreiung unserer SA-Genossen auch ein Auge zu, wenn die mal über die Stränge geschlagen haben. Ellerhusen zwinkerte linkisch mit den Augen.“ Von der Seite der Justiz haben wir nichts zu befürchten.“

„Immer nützlich, die Justiz“, bestätigte Kaufmann.

Einige Wochen später konnte Ellerhusen berichten lassen:

„Das Recht der Straße hat sich die SA in jeder Weise erkämpft, und die Roten wissen, dass in St. Georg für sie ein ungleich gefährlicheres Pflaster ist, als es etwa die Neustadt war oder gar Hammerbrook, wo sich kein SA-Mann allein sehen lassen kann, ohne angefallen zu werden. In St. Georg ist das vorbei. Die SA ist stark und wach. Wir sind auf dem richtigen Weg.“

„Ellerhusen, suchen Sie doch mal ein paar kleine Parteigenossen aus, die wir auf die Kommunistische Partei und die illegalen Gruppen ansetzen können. Ich denke da auch an Stadtteile wie Winterhude und Eimsbüttel. Reden Sie mal mit den Kampfgenossen vor Ort.“ Kaufmann schlug eine Mappe auf. „Und schauen Sie mal hier: Ein Dankesschreiben vom Reichsinnenminister. ,… danken wir Ihnen für die Gewinnung der Hamburger Kaufmannschaft und Wirtschaft. Wir freuen uns außerdem über die zunehmende Arisierung des Handels und der Produktion. Na, das ist doch was. Also bereiten Sie was vor, die Kneipen und Betriebsbesichtigungen, da können wir was verteilen.“

Welche Absurdität. Niemand fand etwas dabei. Aus heutiger Sicht ein Schauspiel.Absurditäten werden uns auch in den nächsten Szenen begleiten. Versprochen. Die Welt hat sich mittlerweile daran gewöhnt.

Hinweise: Woody Allen: Film. Dr. Seltsam, oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben.
Jens Gärtner: Die Kunst des Selbstrasierens Roman, Feldhaus Verlag

Ambigue Begegnung – Srebrenicia

Lamellen – Begegnungen – eine Vorgeschichte von Jens Gärtner und Svenja Hirsch. Aus: Ambigue Begegnungen, Bod Verlag.

In Screbrenica wurden im Juli 1995 während des Bosnien Krieges über 8200 Jungen, Männer, Greise, einfach jede männliche Person ermordet. Das Massaker wurde unter der Führung von Ratko Mladic (Armee der Republice Srpske, der Polizei und Paramilitärs) verübt.

Das Fenster geht über die gesamte Zimmerfront. Auf derFensterbank ein Blumenkübel mit abgebrochenen Stielen. Ich sollte sie mehr pflegen, mehr gießen. Sie sehen traurig aus, trocken und verdorben. So wie ich. Das Licht des Computer-Bildschirms färbt bläulich auf die Zweige ab, auf meine Hände. Seit einer halben Stunde beobachte ich das Farbspiel, starre apathisch aus dem Fenster. Ein Wohnblock neben dem nächsten, aufgebaut in Reih und Glied. Zwischendrin nur die Balkone, kleine Terrassen und Gärten, ein schmaler Gehweg.
Von der Seite her rauscht die Straße. Die Fenster gegenüber sind gardinenverhangen.
Alte Leute, denke ich und schaue kurz zurück auf den Bildschirm. Nur das eine, schräg rechts, hat keine weißen, fließenden Spitzenstoffe. Ein Lamellenrollo verdeckt, wenn etwas verdeckt werden soll. Zeigt, wenn etwas gezeigt werden soll, oder deutet an, was sich dahinter verbergen könnte. Ich kneife die Augen zusammen, schaue dann schnell wieder weg. MeineGardinen sind weiß und schwer, mit großen Ösen, nur zugezogen, wenn ich schlafe. Sonst kann jeder von gegenüber sehen, wie ich alleine und zusammengerollt auf meiner 90 cm breiten Matratze liege. Kein Platz für einen zweiten Menschen in der Ein-Zimmer- Wohnung. Jetzt sind die Gardinen zu beiden Seiten aufgezogen, geben den Blick auf mich an meinem Schreibtisch frei.

Hinter den Lamellen ist ein Schatten. Ein Kind oder ein sitzender Erwachsener. Schreibtischhöhe, meine Höhe. Er bewegt sich und wird länger. Kein Kind, ein ausgewachsener Mensch. Steht frontal, entweder mit dem Rücken oder Gesicht zu mir, breites Kreuz, ein Mann. Er könnte mich jetzt gut beobachten oder sehen, dass ich ihn beobachte, denke ich und schaue weiter zu den Lamellen. Der Schatten bewegt sich, ein zweiter kommt dazu, hinten aus dem Licht einer geöffneten Tür. Oder dem, was ich als diese Tür erkenne. Ich arbeite weiter, öffne Back-Ends, tippe Codes in Masken und aktualisiere. Die Zeit vergeht, ich fülle die Online-Shops meiner Kunden mit neuen Produkten. Trash, denke ich, doch er bringt mir Geld. Bezahlt die Ein-Zimmer-Wohnung mit dem schmalen Bett. Geradeso. Bestandskunden, die ich in meiner guten Zeit als selbstständige OnlineShop-Managerin akquiriert habe. Jetzt mache ich kaum noch Akquise, die Kunden schwinden, die Kontakte generell. Sie gehen mir aus. Drüben brennt noch Licht. Als ich den PC runterfahre, ist es bei mir stockdunkel. Dann werden auch die Lamellen sorgsam von innen geschlossen.

Eigentlich ist es mir völlig egal, was die Leute über mich denken, Sie denken ja, was sie wollen. Ich habe meine Fenster gern offen, frei von Stoff, anders als viele hier. Biete, wem auch immer, Einblick. Manchmal nur ein wenig durch schräg gestellte Lamellen. Andere haben allerdings Gardinen, vielleicht nur, um sich dahinter zu verstecken. Die Häuser stehen sich eng gegenüber und geben Einblick in das 100fache Theater in den Schubkästen. Wie Puppenstuben. Wohnzimmer, Schlafzimmer. Wenn die Häuser nach Norden ausgerichtet sind, kann man auch in die Küchen blicken, in die Töpfe gucken. Sehen, wer alleine lebt, Familienleben, wechselnde Partner, nackte Menschen in allen erdenklichen Situationen. Schamlos, vergesslich. Das alles wird von vielen gar nicht mehr wahrgenommen, denke ich, sie nehmen es wie Autoverkehr, in den sie sich einfügen. Gedankenlos,eng beieinander und dennoch anonym. Wen interessiert das schon. Gegenüber sehe ich im Hintergrund eine bläulich illuminierte Silhouette, die sich im Fenster spiegelt. Wieder so eine einsame Person, die sich am Computer festhält, bis sie einschlafen kann. Ich schließe die Lamellen.

Ich sitze gern am Fenster. Wenn ich mich zu sehr beobachtet fühle, schließe ich die Lamellen auf eine Weise, die mir die Möglichkeit lässt, hindurch zu blinzeln und das Geschehen auf der Straße zu verfolgen.

Auch die mittleren Etagen kann ich dann einsehen, dass reicht mir meistens. Ich habe mich einmal in das Treppenhaus gegenüber begeben, um auszuprobieren, was man von dort aus sehen kann. Manchmal, wenn ich jemanden bemerke, spiele ich auch mit der Fensterverdunklung. Egal wer da guckt. Ein Angebot im Schubkastentheater, ja das biete ich manchmal.

In den nächsten Tagen brennt die Sonne in meine Wohnung. Tagsüber muss ich den linken Vorhang ein Stück zuziehen, um nicht komplett zu verbrennen. Ich arbeite, sitze, starre gegen den Stoff. Wie eingepfercht in den eigenen vier Wänden, der Blick kann nicht weit schweifen, er bleibt nur wenige Zentimeter weiter stehen, verirrt sich in dem Weiß, bis er ermüdet aufgibt. Nachmittags lässt sich der Vorhang endlich wieder ganz öffnen. Mein Blick wandert jedes Mal zu den Lamellen, jedes Mal dasselbe Spiel: Ein Schatten, der hinter dem Rollo sitzt, sich erhebt, einige Zeit wie erstarrt verweilt. Ich fühle mich beobachtet und beobachte doch penetrant zurück. So geht es bis zum Freitag. Keine Alternative. Nicht jetzt. Seit zwei Jahren wohne ich hier. Davor war mein Leben fast vier Jahre angenehm. So dachte ich zumindest. Oder vielleicht waren es weniger als vier Jahre, ich bin mir nicht sicher, habe den Wendepunkt weit verpasst. Erst hinterher, als es schon zu spät war und ich mit gepackten Kisten an der Straße saß, dämmerte es mir langsam. Zu zweit war ich. Doch irgendwann spürte ich Einsamkeit.

Die kleinlichen Vorwürfen, zuerst kaum spürbare Verletzungen, die, je mehr es wurden, auch die Wunden tiefer rissen. Die Ablehnung.

Erst nur von romantischen Gesten: Zwei Weihnachtsplätzchen auf einem Teller, einer in Schlüsselform und einer als Herz. Und die andere, versteinerte Miene mir entgegensah, die Worte „ich kann so etwas nicht“. Dann die Ablehnung von dem, was ich war: Meine Lieblingsbilder, meine Bücher, es war alles nicht mehr genug. Nicht mehr auszuhalten, nicht erwünscht. Ich habe das gelernt. Ich habe es für mich angenommen, Romantik gebe ich keinem mehr. Deshalb das 90-cm-Bett, die kleine Wohnung, nur mit mir am PC.

Ich bin erschöpft vom vielen und langen Sitzen, die Augen brennen. Ich ziehe mich aus dem Stuhl hoch, stemme die Hände in den unteren Rücken und drücke das Kreuz durch, sodass es knackt. Frontal stehe ich an meinem Fenster, wieder beobachtend, was diesmal hinter den Lamellen passiert.

Heute regnet es endlich. Häufiger als sonst sind die Gardinen in den Wohnungen gegenüber zurückgezogen. Wahrscheinlich taten es die meisten, so, als biete der Regen ausreichenden Schutz vor eindringenden Blicken. Eine natürliche Längslamelle. Oder es waren Hoffende, die auf besseres Wetter warteten, die Sonne zurücksehnten. Zeitweise zogen die Wolken dicht und schwarz über die Häuser, dass sie wie die Nacht selbst die Dunkelheit vor die Fenster und auf die regennasse Straße warf. Ich blickte in das Grau der Straße, die sich mit dem Himmel zu vereinen schien. In dieses Grau hinein trat eine noch dunkler gekleidete Person, mit einem schwarzen Schirm geschützt, in den Windfang vor der Eingangstür. Das konnte ich von meinem Platz aus gerade noch erahnen. Dann klingelte es bei mir. Ich öffne nicht. Ich will nicht. Ich kenne hier niemanden. Nur gegenüber eine Person, deren Schatten ich hin und wieder sehe. Das reicht mir. Es gibt keine Person mehr, die mir nah ist, also kann ich nicht gemeint sein. Dennoch spüre ich, dass da etwas ist, was ich weiß und das es noch Menschen gibt, die mich vielleicht kennen. Srebrenica ist weit weg. Aber eine Angst ist ganz nah, immer bei mir. Eine Angst, die ich nicht erklären kann. Die ich aus mir verbannen will, indem ich für mich bleibe. Schemen reichen mir.

Der erste Schatten steht am Fenster, hinter ihm Licht, dass durch die Türöffnung steht. Ein Türlichtfeld. Der zweite Schatten bewegt sich in den Raum. Dann stehen beide ganz dicht beieinander, umarmen sich vielleicht. Der zweite bewegt sich einen Schritt zurück, beugt sich zu dem ersten. Sie küssen sich bestimmt, denke ich. Ein warmes Gefühl durchwühlt mich. Schnell und zaghaft. Dann weicht das Gefühl zurück. So sieht auch der zweite Schatten aus, als ob er zurückweiche. Ich kneife die Augen zusammen, schiebe das Kinn nach vorne. Ich stehe einfach da. Die Szenerie kommt mir unwirklich vor, sie fällt heraus aus dem, was die vergangenen Tage hinter den Lamellen geschehen ist. Oder von dem, was ich denke, dass es geschehen sein könnte. Der Schatten bewegt sich minimal, es scheint, als blicke er zu mir herauf. Er verharrt. Der zweite Schatten sieht so aus, als bewege er sich auf den ersten zu. Ich halt die Luft an. Es geht alles ganz schnell. Kaum eine Millisekunde, so schnell, dass ich es nicht begreifen kann und der erste Schatten fällt nach unten. Nichts ist mehr zu sehen. Nur der zweite Schatten, wie er langsam bis ganz ans Fenster tritt, den Kopf gehoben geradeaus, die Lamellen, die sich langsam meinem Blick verschließen.

Ich kenne die Frau nur flüchtig. Ich erkenne sie in ihrem alt gewordenen Gesicht. Aber ich weiß nicht mehr, wer sie war oder gar wie sie hieß. Es stellt sich auch kein Gefühl ein. Sie sagt, sie kenne mich gut. Sie lacht. Warum lacht sie, denke ich. Ein Tee? Ein Kaffee? Etwas anbieten oder keine Zeit haben? Ein Tee wäre jetzt doch gut, sagt die Frau. Ich will meine Lamellen ein wenig weiter öffnen, damit die Person von gegenüber, die immerzu bläulich gefärbte Person, teilhaben kann an meinem Besuch, der mir nach der ersten Überraschung gar nicht mehr bekannt vorkommt. Die weiß, dass ich zurück gucke, sie muss es wissen, sonst macht alles keinen Sinn. Sie könnte Zeugin sein. Ich weiß noch nicht wovon. Sie steht da am Fenster und ich scheine ein Teil von ihrer Welt zu sein. Erst will ich das Teewasser aufsetzen. Es klingelt wieder. Die Frau öffnet, bevor ich bereit bin. Ich weiß nicht, warum ich das zulasse.
Es ist außerdem völlig unaufgeräumt. Was soll ich zuerst machen? Schnell schiebe ich den großen Kleiderständer beiseite. Meinen fast zwei Meter hoher Butler, der wie immer mit Kleidungsstücken, die ich in den letzten Wochen getragen hatte, viel zu voll gepackt war. Meine Aktion ist zu abrupt und das Monstrum kippt, in Zeitlupe zwar, unaufhaltsam zu Boden. Er fällt leicht, weich und leise, gemildert durch den Berg von Klamotten. Lärm macht lediglich das rahmenlos verglaste Poster, welches im Fallen von der Wand gerissen wird. Dann stehen unvermittelt zwei Frauen im Raum. Sie lachen, sie freuen sich scheinbar über das Chaos. Sie sehen sich an und lachen wieder, die zuletzt gekommene Frau sagt:“Ich gehe dann mal in die Küche.“ Sie schwingt sich dynamisch auf einem mit einem dunkelgrünen Highheal beschuhten Fuß in Richtung Küche. Woher weiß sie, wo die Küche ist, denke ich noch, bevor die erste Frau, die mit dem alten Gesicht sagt: „Wir haben Kekse mitgebracht.“ Ich komme nicht darauf. Wer ist sie, und Kekse, was für Kekse? „Wir trinken erst einmal einen Tee und dann räumen wir auf, nicht?“ „Woher kennen Sie mich?“, frage ich. Mittlerweile sitze ich auf meinem Sofa, von wo aus ich sowohl den Raum als auch das Fenster sehen kann. Sie sagt nichts, lächelte aber freundlich. Dabei blitzten zwei silbern überkronte Schneidezähne aus ihrem Mund.
Das Dorf, sagt sie nach einer Weile, und jetzt blitzen auch ihre Augen. Aber sie sieht aus, wie jede Frau aus einem Dorf, jedenfalls in ihrem Alter sieht sie aus, wie jede Frau. Eine beliebige Nachbarin aus einem Dorf , ja genau, ich fange an, mich zu erinnern. Ein Dorf an der Drina, in einem Chaos der „Säuberung“. Was machen sie jetzt hier? Ich sehe sie in einem Strom von Menschen, die in alle Richtungen laufen. Die einen Blauhelmsoldaten anschreien, eine Straße blockieren, um Zeit zu gewinnen. Aber das ist sinnlos, denn die Blauhelme verschwinden, die Menschen sind auf sich gestellt. Jeder für sich. Ich für mich. Der Lärm der Granaten die dann kommen, ist verschwunden. Hier ist es still. Hier soll es still bleiben. Das laute Töten geht mich nichts mehr an. Ich nehme einen dieser Kekse. Sie schmecken bitter und zuckersüß. Ich nehme noch einen. Wenn ich kaue, muss ich nicht reden. Worüber auch reden? Blute ich?

Kann das Gewalt gewesen sein? Körperliche. Seelische meine ich zu kennen – schon als ich mit ihm zusammenzog, war ich nicht gänzlich willkommen. Und dann nach zwei Jahren die Haussuche. Ich suchte, sollte aber nicht im Grundbuch stehen. Er traute mir nicht. Er meinte, ich könne ihn ausnehmen. Stattdessen wollte er mich ausnehmen. Ich sollte Miete zahlen, dort im Eigenheim, zahlen für etwas, das ich am Ende nicht besitzen würde, damit er es am Ende besaß. Ich begriff das erst später. So isoliert war ich, dass ich es kaum mehr spürte. Als wäre auch mein Schatten nach unten gefallen, nicht mehr sichtbar. Mein Glück? Ich hatte es nicht verteidigt gegen ihn. Gegen ihn und für mich. Und jetzt sitze ich hier. Ich kann an dem Leben der anderen teilnehmen, wenn ich durch die Scheiben sehe. Mein Kopf erledigt den Rest. Hinter Scheiben können sie mir nichts anhaben, diese Menschen. Wie die wilden Tiere im Zoo. Ich sehe sie und ihr Leben. Glaube, in Kontakt zu stehen und doch können sie nicht an mich ran, mir nichts anhaben. Mir nicht weh tun.

In meinem Kopf dreht sich alles. Zu laut und schwer, wie Kreislauf an einem heißen Sommertag. Habe ich je jemanden in das Haus gegenüber gehen sehen? Und wenn ja, wie könnte ich den- oder diejenige zuordnen? Als Gast hinter den Lamellen? Wenn ein Schatten runter fällt und
wegbleibt. Ist er dann tot? Oder durch ein Licht weg geblendet? Hörte man einen Schuss? Etwas, das nicht im Stande war, zu mir herüber zu dringen, wie ein Schlag oder ein Stich? Und sollte ich rüber gehen? Sollte ich die Polizei rufen, würde man mich für verrückt erklären? Hat es hinter den Lamellen schon eine Putzaktion gegeben, alle Spuren verwischt? Ein Mord oder nur ein ermordeter Schatten?
Ich stehe vor der Tür, die Jacke fest um mich gewickelt. Friere. Bekomme kalte Füße. Alles Grau in Grau. Ich starre auf das Klingelschild. Welcher Name könnte zu den Lamellen passen? Peters? Korniman? Jemand kommt aus dem Haus. Der erste Mensch seit Tagen, den ich ohne Fenster zwischen ihm und mir anschaue. Ich reagiere schnell, nicke, lächle, fasse an die Glasscheibe der Tür und halte mir diese in den Hauseingang auf. Wieder dieses Kreislaufproblem. Mir ist schwindelig. Menschen. Menschen machen mich wahnsinnig, wenn keine Scheibe zwischen ihnen und mir ist. Und doch spüre ich, wie ich nach dem Kontakt geradezu lechze, ich fühle mich wie ausgehungert. Als habe ich mir eben gerade, durch die Begegnung auf der Treppe eine Spritze gesetzt, gefüllt mit einer höchst abhängig machenden Droge. Reingedrückt, ab in die Blutkreislaufbahn. Mehr davon, sonst fange ich noch an zu zittern. Also steige ich die Treppe hinauf. Erster Stock. Hier müsste es sein. Es duftet nach Tee. Soll ich klingeln?

Im Treppenhaus steht noch eine Frau. Ich werde verrückt, werde ich verfolgt? Aber die im Treppenhaus kommt mir bekannt vor. Aus den Augenwinkeln heraus scheint die Frau Ähnlichkeit mit der bläulich beleuchteten Person von Gegenüber zu haben. Ich erschrecke. Machten die gemeinsame Sache? Komm leg dich aufs Bett, hatten sie mich aufgefordert. „Du bist ja ganz blass, lachen sie. Die zweite Frau, die zuletzt gekommen war und genau wie die erste keinen Namen nannte, hatte sich schon rückwärts auf mein Bett fallen lassen. Wie waren sie überhaupt im Schlafzimmer gelandet? Weg von den Lamellen! Die erste zog mich am Arm und biss mir in den Hals gebissen. Und gelacht. Dann schubst mich die eine und die andere zog. Ich fliege auf das Bett. Jetzt schreit die zweite: „Was machst du hier in meinem Bett?“ Sie ziehen mir, als ich im Bett zappel, den Gürtel aus der Hose und freuen sich. War das noch Spaß? Dann stoßen sie mich mit den Füssen auf den Boden, treten zu und versuchen mich mit dem Gürtel zu treffen. „Für Srebrenica“, schreien sie. „Wir ziehen Dir die Haut ab.“ „Ich hab doch nichts gemacht!“ , brülle ich. „Genau das ist es ja, du hast nur zugeguckt, du Feigling“. Ich will etwas erwidern, erklären, aber sie wollen nicht reden. Ich drehe mich zur Seite trample und strample mich frei. Mit letzte Kraft renne ich aus der Wohnung gerannt. Ich verliere meine Sinne. Jetzt steht diese Frau hier. Ist sie jetzt in Gefahr?
Kann ich sie da oben rein laufen lassen? Ich laufe an ihr vorbei, über die Straße in das Treppenhaus hinein, was mir von meinen Besuchen bereits vertraut ist. Von hier aus blicke ich in meine Wohnung, in der gerade die Jalousien, die ich vorhin weiter geöffnet hatte, vollständig geschlossen werden. Ich blicke noch einen Moment hinüber. Mein Herz rast und ich schwitze. Diesen Zustand meines Körpers bekomme ich nicht unter Kontrolle. Auf einem Treppenabsatz ruhe ich mich aus, was ich nicht lange aushalte. Als ich wieder aufstehe, sehe ich hinter den Lamellen meiner Wohnung einen schwachen Lichtschein. Er wirkt nicht wie ein Lampenlicht, das würde man in diesem noch schummrigen Tageslicht nicht erkennen. Was für ein Licht kann das sein? Ein Zeichen? Für mich? Ich stehe unschlüssig im Treppenhaus. Soll ich bei der Person klingeln, die immer im bläulichen Licht steht? Mit welcher Begründung? Ich denke, sie sieht mich auch. Fühle, dass sie mich kennt, da wir uns gewissermaßen täglich sehen. Ich wolle „Hallo“ sagen? Aber ich musste doch wissen, ob sie in meiner Wohnung war. Sie war doch meine einzige Bekannte von Gegenüber. Jedenfalls sehe ich sie immer. Wenn sie am Fenster ist. Ich muss doch auch für sie ein Bekannter sein. Unentschieden blicke ich wieder über die Straße. Sie scheint immer breiter zu werden. Ein Schwindel erfasst mich, mein Kopf weitet sich. Die Straße färbt sich blauschwarz zu einem Fluss. Das Wohnhaus gegenüber schrumpft zu einem Häuschen, wie das in Srebrenica. Srebrenica 1995, das Haus das brannte. Aus dem liefen jetzt zwei Frauen heraus und schrien. Ich sah sie weglaufen, voller Angst. Männer liefen ihnen nach. Schüsse fielen. Die Alte mit den Metallzähnen wurde jetzt in meinem Kopf immer jünger und lief rückwärts. Ich erinnerte mich nicht mehr, wer war ich da in Srebrenica, in dem Massaker. Das Haus am Fluss brannte jetzt lichterloh.

Der Mann ist verrückt, nicht ich! Ja, es ist ein erwachsener Mann. Ich habe ihn gesehen. Eben. Ich stand vor seiner Tür. Dreckiges Weiß, Schrammen im Holz. Die Tür wurde von Innen aufgerissen. Er. Nackt. Keuchend. Als habe man ihn gejagt. Schweissüberströmt, wie ein Urmensch aus einer anderen Zeit. Er starrte mich an. Wie ein Gespenst, auf das er gewartet hat. Ich sah an ihm hinunter. Was sollte ich sonst tun? Da fiel es mir auf, seine Hände. Rot. Auffallend rot. Er preschte an mir vorbei, so wie er war, die Treppen hinunter. Ich lief ein paar Schritte hinterher. So verrückt und aufgescheucht hätte er leicht ein Kind erschrecken können. Oder jemanden angreifen. Er könnte jemandem weh tun.

Aber was weiß ich schon über Menschen! In so vielen habe ich mich getäuscht, gerade in den mir so nahe geglaubten. Ich sehe, wie er hinüberläuft, von seinem Treppenhaus in meines. Und ich bin hier. Was tun, was tun? Ich zittere am ganzen Körper. Entzugserscheinung? Oder kann ich ihnen nicht mehr begegnen, den Menschen, so ganz ohne Scheibe, die nackte Realität vor Augen, den ganzen Wahnsinn?

Es gibt kein Zurück. Ich kann nicht hinüber, nicht in meine Wohnung. Da ist er. „Egal wo ich bin, du bist schon da“, der Satz des Todes, ein Satz, der mich an alte Zeiten erinnert. Den er zu mir sagte, im gemeinsamen Bett. Es schmerzt. Ich kann nur hier warten. Oder ganz gehen. Ein paar Straßen weiter. Zur Polizeiwache.

Weiterlesen: In Ambigue Begegnungen, BoD Verlag, ISBN 978-3749453283