Wenn man halbnackt in die Röhre gefahren wird um eine Magnetresonanztomographie zu erfahren, ist man nicht mehr die Person, die man kurz zuvor war. Die Wahrnehmung der Dimensionen verändert sich. Es ist, als würde man kleiner, jünger und verliere an Durchsetzungskraft und Selbstbestimmung. Nicht jedem mag es so gehen, nicht jeder mag es sich eingestehen. Mir geht es so. Verschiedenen Stufen der Kompetenz sind mir bekannt. Eines Tages habe ich diese unbewusste Inkompetenz entdeck, Ängste von mir fernhalten zu können. Ich habe keine Angst vor nichts und niemand. Illusion. Dabei kenne ich die Stufen der Kompentenz, die für jederman gelten. Die unangenehmste Stufe auf der Treppe des Selbstbewusstseins ist die unbewusste Inkompetenz. Die Stufen verlaufen von der unbewusste Inkompetenz zur bewussten Inkompetenz, oder von der unbewussten Kompetenz zur bewussten Kompetenz. Zu wissen, was man kann, ist sehr beruhigend. Was man nicht kann, braucht man im Normalfall nicht zu wissen.
In gewissem Maße trifft das auch für Fähigkeiten zu, die man bewiesenermaßen nicht hat. Objektiv betrachtet ist das MRT ein guter Praxistest der Selbstbetrachtung.
Röhren sind demnach nicht einfach nur nichts für mich, sondern ich bin ihnen völlig ausgeliefert.
Als ich noch ein Kind war, musste das anders gewesen sein. Im Stadtpark gab es einen großen Spielplatz mit einem lang ausgestreckten Krokodil, durch das man bäuchlings hindurch robben konnte. Die Krokodilröhre war so eng, dass der Rücken an der Konstruktion scheuerte,wenn man sich nicht klein genug machte. Mir verursachte das Krokodil immer ein wenig Unbehagen. Je größer ich wurde, umso höher stieg die Wahrscheinlichkeit, stecken zu bleiben.
Jetzt bin ich mir immerhin meiner Inkompetenz bewusst, also selbstbewusster. Selbstbewusstsein entsteht aus einem sich-selbst-bewusst sein.
Ich bin es gewohnt, das Sagen zu haben. Das funktioniert meistens, auch wenn ich nicht vorne bin. Das Sagen zu haben bedeutet, dass andere mir folgen. Manchmal bin ich nur hinten und greife korrigierend ein. Wenn andere mir auch folgen, wenn ich nicht da bin, führe ich. So bin ich es gewohnt, habe schließlich lange daran gearbeitet. Soweit ich mich kenne, ist mir die Kontrolle über Situationen und Personen wichtig. Das ist sozusagen mein „Want“. Hier habe ich nichts zu sagen. Stehe entblößt. Die Entscheidung, die ich treffen darf, ist es quasi, die blaue oder die rote Pille zu nehmen. Betäubt und benebelt in diese MRT-Matrix einzufahren. Oder die Realität wahrzunehmen. Ich wählte Letzteres.
Vielleicht treffe ich Morpheus aus dem Film „Matrix“ und kann die Realität überwinden. Ähnlich wie in dem Film „Matrix“, wo die Hauptfigur Thomas Anderson eine großartige Wandlung vollzieht, indem er tagsüber bei einer Software-Firma arbeitet, nachts aber als Hacker Neo im Cyberspace unterwegs ist. Hier stößt er auf den Begriff der „Matrix“ und auf den Namen „Morpheus“. Als er einer geheimen Botschaft auf seinem Rechner folgt, trifft er eine Hackerin. Sie sagt ihm, dass er in Gefahr sei und dass ihm Morpheus mehr dazu sagen könne.
Nun, dass erwarte ich von meiner Reise in den MRT schließlich auch.
Neo wacht dann plötzlich in seinem Bett auf und denkt, er habe nur geträumt. Als die beiden sich endlich treffen, kommt es dazu, dass Neo in einer anderen Welt aufwacht. In einer grauen Welt der Realität.
So fühlt es sich momentan hier auch an.
Aber ich glaube an ein gutes Ende.
Morpheus erklärt Neo – nicht mir -, was passiert ist: Im 21. Jahrhundert hat die Menschheit Maschinen mit künstlicher Intelligenz erschaffen. Als sie die Kontrolle über die Maschinen verloren, blockierten die Menschen den Zugang zur Solarenergie, um so die Maschinen auszuschalten. Die Maschinen konnten aber die Menschen versklaven und nutzen seitdem die menschlichen Körper zur Generierung von Energie.
Genauso: ich werde hier meiner Energie beraubt!
Tatsächlich liegen die Menschen bewusstlos in Tanks und leben in der Matrix, einer computersimulierten Welt. Einige Menschen konnten der Simulation entfliehen und wollen nun auch den Rest der Menschheit befreien. Ein Orakel prophezeit, dass ein Auserwählter das System zerstören wird. Morpheus ist sich sicher, dass Neo der Auserwählte ist.
Was für eine Lüge! Und das bevor die gelbhaarige Ente Präsident der USA wurde.
Bevor die schöne Corona ein erstes Experiment startete.
Man hat immer die Wahl zwischen Illusion oder Realität.
Ähnlich wie in dem Buch Hologrammatika, wo die heruntergekommene Umwelt mit eine Holomask aufgehübscht wird. Lediglich mit einer speziellen Brille kann man die Realität wahrnehmen.
So spinne ich vor mich hin. Die Zeit vergeht, doch wie wenig Zeit die Gedanken benötigen! Diese Reise durch unwahrscheinliche Welten lassen mich zu dem Schluss kommen: Ich sollte die Illusion wählen. Immer! Eben habe ich noch die Realität favorisiert. Wie leicht ich doch zu manipulieren bin. Nur das dies hier keine Simulation ist. Und ich nicht wählen kann. Nur ein wenig Betäubung könnte ich haben. Kann ich mir sicher sein, in dieser Röhre? Dabei bin ich ein freier Mensch. Der alte Anarchist Stirner kommt mir in den Sinn. Stirner und die Freiheit des Menschen. „Der Eigene, der Individualist, ist der ursprüngliche Freie, weil er nichts mehr schätzt als sich selbst. Er weiß, dass seine Freiheit vollkommen wird, wenn sie in seiner Gewalt ist. Mit einer Handvoll Gewalt kommt man weiter, als mit einer Handvoll Recht.“
Das scheint das Erfolgsrezept von Putin und Donald Trump zu sein. Ich wusste gar nicht, dass die Anarchisten sind.: „Nehmt Euch die Gewalt und Eure Freiheit kommt von selbst. Wer die Gewalt hat, steht über dem Gesetz.“ Na also. Für mich aber gilt der letzte Satz. Ungefähr geht es um die Selbstbefreiung, die man letztlich nur selbst erringen kann.
Wir verstehen das, sagt die Ärztin, was ich ihr nicht glaube. Wie lange es dauern würde? So um die 35 Minuten, meint sie. Ach so, ich hatte mit 20 Minuten gerechnet. 20 Minuten könnte ich schaffen, meine Angst zu überwinden. Habe ich bereits einmal bewältigt. Zweimal um genau zu sein, allerdings einmal etwas jämmerlich, fast weinerlich……..
Einmal war ich recht gut im Kernspin gewesen, wenn man bedenkt, wie nah der Tod scheinbar ist. Lebendig im Sarg, so ist das. Einmal war meine Schulter starr, das andere Mal hatte ich ein Geschwür in der Halsgegend. Alles musste durchleuchtet werden. In dieser Form einer Matrix kann ich auf Erfahrungen zurückgreifen. Ich habe allerdings das Gefühl, dass das Unbehagen mit jedem Mal größer wird und meine Haut dünner. Was die MRT anbetrifft, helfen Erfahrungen nur bedingt. Und ich verfüge nicht über meine Individualität.
Also 35 Minuten in Sekunden herunter zählen, was ist das schon. Aber nein, nicht einfache Sekunden. Sehr bedeutende Sekunden, die zu Beginn schnell vergehen. Nach etwa 10 Minuten werden die Sekunden schneller. Dann vergisst man die Zeit, um sich ihr anschließend, wie zur Strafe, wieder sehr bewusst zu werden.
Eine Ärztin, die im Vorraum an einem Monitor sitzt, erklärt mir, was sie sich anschauen wird. Man kann sehen, wo sich eine Arterie verschließt oder eben nicht. Will ich das wissen. Mein Kardiologe will das wissen. Mein Hausarzt will es wissen.
„Schaffen Sie das“, fragt auch die Assistentin. „Mal sehen, wir versuchen es.“ Es war weniger eine Frage denn eine Ansage.
Hinlegen. Die Blutdruckmanschette ist angelegt. 180 zu 120. Wozu benötige ich da noch ein Stressmedikament, um die Belastungsfähigkeit meines Herzens im Grenzbereich zu testen? Mir bleibt keine Kraft, charmant zu sein. Charmant die Kontrolle zu behalten und mich selbst zu behaupten. Kein „fly me to the moon“ in der Kapsel. Nur meine Gedanken rasen, fliegen wohin sie wollen.
„Wir machen erst ohne Medikamente normale Aufnahmen, dann holen wir Sie wieder raus“, erklärte die Assistentin.
Ich will gleich wieder aus der Röhre klettern. Aus dem Sarg heraus, der mir zwei Zentimeter über meiner Nase mein Sichtfeld verschließt. Ein Sarg! Ich werde sterben, wenn ich erst das Stressmedikament bekomme. Das ist der mich beherrschende Gedanke. Die erwartete unbekannte Angst, die zu der bestehenden Angst dazukommen würde, lässt mich in den Abgrund meiner Seele schauen. Ein Satz von mir gesagt, von mir selbst zitiert. Mir ist kalt. Ich zittere. Den Klingelballon halte ich fest in der Hand. Ich denke an andere Menschen, die im vergangenen Jahr gestorben sind. Was man so denkt in einem Sarg. Jüngere als ich. Ich lebe und stelle mich bescheiden an. Ist doch für einen guten Zweck. Für mein längeres Leben.
„Ich fahre Sie jetzt rein“, sagte die Frau in weiß, nachdem ich für eine Messung kurz draußen war. Die Kanüle drückt, eine Spritze wird bereitgelegt.
Es klopft und hämmert im Sarg. Presslufthämmer ballern lustig. Ich schließe die Augen und zähle. Für einen Moment schalte ich ab. Ich versuche an Nichts zu denken. Dann erscheint Ripp Corby´s Gesicht vor meinen inneren Augen. Ripp, mein Freund, der nicht älter zu werden scheint und immer gut aussieht. „Hallo Ripp flüstere ich“, symbolisch eine Hand erhebend. Es ist eine eher verzweifelte denn lockere Geste. Ich sehe sein blasses Gesicht direkt vor mir. „Ich dachte er stirbt jetzt“, sagte Ripp mit belegter Stimme. „Jetzt stirbt mein Vater“. „ Jetzt sehe ich Ripp direkt über mir, wie ein breit gequetschter Luftballon an der Decke des Kernspins, flackernd im Stakkato der Presslufthämmer.
Ripp hatte mir erzählt, das sein Vater vor einigen Tagen angerufen hatte. Er fühle sich nicht gut hatte er schwer atmend gehaucht. Ob Ripp vorbei kommen könnte. „Ich sprang aus dem Bett“, hatte Ripp berichtet. „Wenn mein Vater um Hilfe bat, musste es schon schlimm um ihn stehen. Ich stürzte ins Auto. 40 Minuten würde ich benötigen. Was würde mich erwarten? Mein Vater hatte seine Küche etwas angekokelt. Er hatte eine Pfanne mit Fett auf den Herd gestellt und war kurz ins Wohnzimmer gegangen, wurde dort abgelenkt und hatte die Küche nicht mehr im Blick. Und die Pfanne nicht.
Das hatte sich so harmlos angehört, dass ich erst am nächsten Tag hinfahren wollte.
Mein Vater hat sich dann selbst mit dem Schrubber an die Arbeit gemacht, klagte Ripp. Im Alter von 83 mit angegriffenen Herzen. Der ganze Feinstaub wurde losgelöst und hat ihm den Atem geraubt. Ich machte mir Vorwürfe! 40 Minuten! Das könnte zu spät sein.
Mein Mobilphone hatte ich zum Glück dabei. Welch eine Segnung. Nie hatte ich mich so erleichtert gefühlt, als die Verbindung klappte. 112. Feuerwehr. Ich habe kurz geschildert was Sache war. `Wir fahren hin, kommen Sie in Ruhe nach`“.
Ripp´s Ballongesicht erweiterte sich über mir und platzte.
Ich erinnere noch aus seinen Erzählungen, dass er die Wohnungstür weit geöffnet vorgefunden und die Feuerwehr seinen Vater bereits mitgenommen hatte. Der Mantel des Vaters, seine Schuhe, die Prinz Heinrich Mütze und andere Kleidungsstücke lagen wild durcheinander neben Kanülen und Gummihandschuhen auf dem Flur hinter der Eingangstür. Wiederbelebung, Verlust des Sprechvermögens und Wiederherstellung dauerten ein gutes Jahr. Ein kleines Wunder des Willens.
Und den Ärzten, die die eigentlich aussichtslose Wiederbelebung durchgeführt hatten: „Man kann nie wissen, was der Mensch will und was er kann. Ich würde jeden wiederbeleben“, hatte einer betont.
Plötzlich zieht mich die Schwester wieder raus. Ein Arzt neben ihr und sagt: „Ich bin der Arzt“ und spritzt das Stressmedikament.
Drei Minuten volle Power. Mein Kopf kribbelt, sage ich, was normal ist, sagt der Arzt. Er ist nicht beeindruckt. „Der eine verspürt eine Enge, der andere einen Druck. Ich fahre Sie jetzt wieder rein, noch dreißig Sekunden; es wird laut werden.“ Das stimmte. „Einatmen, ausatmen, einatmen…“, höre ich über die Kopfhörer. „Wie lange noch?“
„Fünfzehn Minuten, wir beeilen uns. Wir müssen alles wieder neu einstellen. Für jedes neue Bild. Einatmen, ausatmen, nicht mehr atmen!“ Lärmendes Aufnahmegerät. Schwere Platten auf meinem Brustkorb. Festgeschnallt auf der Liege, kein Entkommen. Knapp die Hälfte geschafft.
Wird fortgesetzt.