Die schöne Corona in Israel

Titel: Abälardisieren mit Corona

I. Der Blick von Corona

Im hinteren Raum des Cafés, wo die Wände zu dicht mit vergilbten Theaterplakaten und zu wenigen Büchern bestückt sind, saß Corona in der Ecke. Ihre Finger ruhten auf einem geöffneten Notizbuch, die Tinte glänzte noch. Ich kannte sie lange genug, um zu wissen, dass sie bereits alles gedacht hatte, bevor sie den ersten Satz zu schreiben wagte.

„Du kommst spät“, sagte sie.

Ich setzte mich. Es war früher Abend, aber der Tag fühlte sich alt an. Irgendetwas war geschehen in ihr. Etwas hatte sich verschoben.

„Du hast geschrieben?“, fragte ich.

„Nein“, sagte sie. „Ich habe gestritten. Mit mir. Mit Gott. Mit dir.“

„Mit mir?“

Sie lächelte schmal. „Nicht direkt. Aber mit der Stimme, die du geworden bist.“

„Welche Stimme?“

„Die der Vorsicht. Der klugen Unterlassung.“

Ich schwieg. Ich wusste, sie meinte mehr als mich.

„Weißt du“, fuhr sie fort, „in Jerusalem, in der Knesset-Bibliothek, bin ich auf eine hebräische Übersetzung von Abälards Sic et Non gestoßen. Es war wie ein Echo. Diese mühselige Gegenüberstellung von Ja und Nein. Diese Hoffnung, dass die Vernunft das Chaos zähmen könnte.“

Ich wusste, worauf sie hinauswollte. Sie trug es seit Tagen mit sich herum, vielleicht seit Jahren.

„Und dann“, sagte sie, „dachte ich: Wir haben uns abälardisiert.“

Ich sah sie an. Sie sagte das Wort mit einer fast schmerzhaften Zärtlichkeit, als wäre es ein altes lateinisches Verb, das sie neu zum Blühen bringen wollte.

„Was meinst du damit?“

„Wir haben versucht, mit Vernunft die Welt zu retten. Haben geglaubt, Dialektik könne Moral ersetzen. Haben gedacht, zwischen Schmerz und Schuld gäbe es eine vermittelbare Wahrheit. Dabei ist alles zerfallen, was wir zu fassen glaubten.“

Sie nahm einen Schluck von ihrem Wein. Ihre Hand zitterte nicht mehr. Sie war zu weit gegangen, um noch zu zweifeln.

„Abälard hatte Heloise. Er liebte sie mit dem Kopf – und verlor sie mit dem Körper. Er wollte Wahrheit und bekam Stille. Wir auch. Wir wollten verstehen. Jetzt starren wir auf Trümmer.“

Draußen zog ein Demonstrationszug vorbei. Stimmen, Rufe, das metallische Scheppern einer Trommel. Corona hörte nicht hin. Oder hörte zu genau.

„Was ist dann das Gegenteil von abälardisieren?“, fragte ich.

Sie sah mich lange an. Ihre Augen hatten einen dunklen Glanz.

„Vielleicht glauben. Oder verzweifeln. Oder töten. Ich weiß es nicht. Vielleicht ist das unser Fluch – dass wir nicht aufhören können, zu fragen.“

Ich blickte auf ihr Notizbuch. Ein Satz stand darin, halb geschrieben, halb gelöscht:

> „Wer schweigt, lügt nicht. Aber er ist kein Zeuge.“

Ich wollte etwas sagen. Irgendetwas. Aber mein Mund blieb trocken. Die Welt war zu laut geworden für Worte, und doch zu dumpf für Antworten.

Corona klappte das Buch zu. „Ich muss gehen.“

„Wohin?“

„Zu einem Freund“, sagte sie. „Er glaubt noch.“

„An was?“

„An den Menschen.“

Sie ging. Und ließ mich zurück mit einer Frage, die wie eine Brandwunde in der Luft hing: Kann man eine verschämte Lüge abälardisieren – mit Worten, die nicht brennen, sondern heilen?

Ich wusste keine Antwort. Dann kam sie doch nochmal ins Cafe und sagte: Heloise antwortet nicht. Sie zitierte Heloise:

Man sagt, ich sei klug. Dass ich die Bücher kenne. Dass ich mit Männern streiten kann, ohne rot zu werden. Man sagt, ich habe einen scharfen Verstand, wie eine Klinge, frisch aus dem Feuer gezogen.
Aber niemand fragt, was das alles kostet.

Ich war in Jerusalem, ja. Ich stand in Yad Vashem. Ich stand in Ramallah. Ich stand zwischen den Sprachen, den Karten, den Kindern mit großen Augen. Ich stand wie Heloise einst – mit leerem Schoß und vollem Kopf.
Und ich verstand: Vernunft heilt nichts. Sie beschreibt nur die Wunde mit schönerer Sprache.

Abälard hat Briefe geschrieben. Lange, windende Sätze voller Demut, voller Philosophie. Er nannte es Liebe, aber es war Schuld. Und dann floh er in Klöster, in Argumente, in Gott.
Er nannte das Denken einen Trost. Ich nenne es ein Feigenblatt.

Wenn ich sage, wir haben uns abälardisiert, dann meine ich:
Wir haben gelernt, uns zu verstecken – hinter Begriffen, hinter Diskursen, hinter der Hoffnung, dass Wahrheit etwas ist, das man gewinnen kann.
Aber Heloise hat nie gewonnen. Sie hat geschwiegen, ja. Aber ihr Schweigen war nicht Zustimmung. Es war das Echo der Leerstelle, die Abälard hinterließ.

Ich habe deinen Blick gesehen, als ich dir von Gaza erzählte. Du hast mich nicht korrigiert. Nicht widersprochen. Aber du hast dich nicht getraut, zu nicken.
Das ist die verschämte Lüge, von der ich sprach:
Nicht, dass du lügst. Sondern dass du lieber nichts sagst, als etwas Falsches.
Aber das Falsche ist längst geschehen. Nicht in Worten. Sondern in Leben, die gezählt werden wie Statistiken.
Und du? Du willst gerecht sein. Objektiv. Verständig.
Abälard, mein Lieber, hat das auch gewollt. Und Heloise blieb allein zurück mit dem Kind.

Vielleicht braucht diese Welt keine neuen Abälards.
Vielleicht braucht sie Heloises, die nicht mehr schweigen. Die nicht bitten. Die nicht vergeben.
Die sich erinnern – nicht aus Rache, sondern aus Trotz.

Denn wer denkt, dass Denken reicht, um zu lieben,
hat die Sprache des Körpers nie verstanden.
Und wer glaubt, dass Worte genügen, um das Unrecht zu benennen,
hat nie mit einer Mutter gesprochen, die ihr Kind begraben musste.

Darauf lies sich nichts entgegnen. Selten hatte Corona so lange Monologe gehalten.

Frohe Weihnachten. Dialektik der Aufklärung

Frohe Weihnachten.
Dialektik der Aufklärung: Begegnung der modernen Kulturindustrie mit Adorno und
Horkheimer.
Wie doch alles verwoben ist, in dieser Weihnachtszeit.
Die Philosophen Adorno und Horkheimer treffen auf die Vertreter der modernen
Kulturindustrie Zuckerberg, Musk, Bezos und Gates.
Und die weiteren, die mit der Lüge leben: Weihnachtsgrüße an Netanyahu und Putin, der Netanyahu zu seinem rechtsextremen Ghetto-Bündnis beglückwünscht. (Ach,Trump hat noch nicht gratuliert. Der hängt mit Putin an keinem Baume, er hängt an keinem Strick, sondern an dem (Un)glauben und der Lüge der freien Republik. Frei dem Heckerlied nachempfunden). Was für eine Zeit, doch nichts ist wirklich neu, wie wir sehen. Alles ist bekannt, wir wissen, was uns erwartet. Steht es doch an der Wand geschrieben und überall in der Bibel.
Es begab sich und es begibt sich zur Weihnachtszeit. Jesus litt und leidet für die
Menschheit. Diese versetzt sich selbst wie gewöhnlich in Angst und Schrecken.
Adorno und Horkheimer, um deren Gedanken es in dieser Begegnung geht, veröffentlichten bereits 1947 die Dialektik der Aufklärung – gegen Ende der nationalsozialistischen
Herrschaft. Sie hatten die Hoffnung, dass sich quasi dialektisch Humanität auf den
Trümmern des 2. Weltkrieges entwickeln würde. Nicht zwangsläufig befürchteten sie, also warnten sie uns vor Zuckerberg, Musk, Gates, Putin und andere Gestalten: “Was eiserne Faschisten heuchlerisch anpreisen und die anpassungsfähigen Experten der Humanität naiv durchsetzen ist: die rastlose Selbstzerstörung der Demokratie”. An Zuckerberg und seinesgleichen gewandt schrieben sie 1947: “Wenn die Öffentlichkeit einen Zustand erreicht hat, indem unentrinnbar der Gedanke zur Ware und die Sprache zu deren Anpreisung wird”,
muss die Gesellschaft die Gefolgschaft versagen, da “die Steigerung (dieser)
wirtschaftlichen Produktivität – die zwar einerseits die Bedingungen für eine gerechtere Welt herstellt – andererseits aber dem technischen Apparat und den sozialen Gruppen die über ihn verfügen, eine unmäßige Überlegenheit über den Rest der Bevölkerung” verleiht.
Zuckerberg entgegnet trotzig: “Unser Vorgehen mit Falschmeldungen ist nicht, dass wir sagen, man darf nichts Falsches mehr im Internet sagen. Ich denke, das wäre zu extrem, jeder sagt mal etwas Falsches”. Auch eine Leugnung der Shoa sei ok.
Elon Musk will auf Twitter mit Fake Accounts “die Rückkehr des Bösen” ermöglichen.
Adorno und Horkheimer formulieren es 1947 – sicher in Unkenntnis von Algorithmen,Twitter, Instagram und Google – so: Die Berufung der Kulturindustrie (Google, Musk und andere) auf den eigenen
kommerziellen Charakter, dass “das Bekenntnis zur gemilderten Wahrheit, längst zu einer Ausrede geworden ist, mit der sie sich der Verantwortung für die Lüge entzieht“.
Die Lüge lebt. Alles steht geschrieben; ist geschehen und wird geschehen, wenn die Dialektik versagt.

Max Horkheimer Theodor W.Adorno. Dialektik der Aufklärung. Fischer Verlag.
Nachsatz:
Gute und dialektische Vorsätze für das nächste Jahr
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