Der Schatten vom Dachboden

Der lange Schatten auf dem Dachboden

Notizen von Felix: Die Geschichte mit dem Handbeil.

Worum es geht? Um alles Große. Ich lebe schon länger als mir wahrhaftig lieb ist. Leben ist für mich zu einer Qual geworden. Ich bin Jahrgang 1912, im Juli geboren, ein Sommerkind. Dass ich so lange leben darf, liegt möglicherweise an meinen Eltern, die mir den optimistischen Namen Felix – der Glückliche – gegeben haben. Felix Ellerhusen. Realistisch betrachtet ist es selbstverständlich die Medizintechnik, die mich seit Jahren umgibt. Großartig bewegen kann ich mich heute nicht, es geht den Forschern lediglich um meinen Kopf, mein Wissen. Ich bin etwas besser dran als Stephen Hawking, der sich nur noch mit Blinzeln verständigen konnte. Meine Eltern sind schon tot und können sich nicht mit mir freuen, dass sie vielleicht doch recht hatten, mit ihrem Reich des Bösen. Vor dem sie mich früh gewarnt hatten. Aber es war zu verlockend gewesen; und ich muss sagen, das ich, obwohl ich damals nicht mit allem einverstanden, naiv war! mit den Ideen dieses „Dr. Seltsam“, der die ganze Welt beherrschen wollte, am Ende doch sehr einverstanden war. Die Lagerfeuerromantik, die Fahnen, die Musik,die Uniformen und die Aufmärsche! Der kalte Atemhauch im Winter, der verbindende Schweiß der Baukolonnen im Sommer. Ich wurde gefördert, Studium und finanzielle Unterstützung. Später wurde mir eine großzügige Wohnung zugeteilt. Ich war begeistert, zunehmend begeistert. Heute ich dem nichts mehr abgewinnen. Das lange Leben hat mich geschliffen hat. Das Schicksal setzt den Hobel an und hobelt alles glatt. Mein Handeln ist jetzt unideologisch ausgerichtet. Friss oder stirb ist meine Devise, beinahe ziellos. Ich lebe noch, hier in diesem Labor, verkabelt, halb Mensch, halb Maschine. Wie früher. Im Reich. Mensch und Maschine; Maschinenmenschen. Ein kleines Rädchen, aber immerhin ein Rädchen, ohne das nichts ging. Profit und Ideologie beherrschten die Herrscher und die Untertanen; heute, hier, eben ohne Ideologie im sogenannten Metaverse. Auch ein Reich. Ich habe alle durchlebt. II.Reich. Die Zeit nach dem III. Reich. Die Zeit zwischen den Reichen.  

Für die BRD galt bald nach dem Fall des ewigen Reiches die Unschuldsvermutung für uns alle. Große und kleine Mörder. Täter und Mitläufer. Meine Chance habe ich genutzt und mit Persil gewaschen. Persil wäscht das weißeste Weiß war das Motto eines großen Waschmittelherstellers, deshalb die „Persilscheine“ für die Nazis. Alle waren sauber und nicht dabei gewesen. So wie ich. Wie in Mehltau gebettet, legte sich eine neue Welt über die alte Welt. Es entstand eine wunderbare, amerikanische Glamourwelt. Wie Kinder staunten die Menschen – lebten und vergaßen. Das sich anbietenden Wortspiel verkneife ich mir. Im Maschinenraum der BRD trieben die alten Naziseilschaften die Republik in ihrem Sinne voran. Sie sind Wirtschaftsführer, Ministerpräsidenten und sogar Bundeskanzler geworden. Diese verschiedenen Ebenen der Seilschaften, Politiker, Nationalsozialisten, Unternehmer und Sieger-Staaten liefen aufeinander zu, als schiefe Ebene oder eine unendlich ineinander verschlungene Treppe.

Heute gibt mir die Vorstellung, dass jegliche Zeit in einem Punkt zusammenfällt, die vergangene und die zukünftige, die Inspiration, heute, im Jahr 2022 diese Geschichten zu notieren. Fraktale. Inspiriert hat mich der Angriff Russlands auf die Ukraine.

Die Motive sind bekannt, die Argumente für Kriegsführungen sind immer gleich richtig und gleich falsch. Immer eine richtige Lüge und eine falsche Lüge. Ich fabuliere auch aus Langeweile übrigens, denn die Wiederholungen langweilen letzten Endes. Es sind ausnahmslos einige klitze kleine Geschichten des kleinen Kosmos im Großen aufzuschreiben. Eine Spiegelung, eine Wiederholung zudem, unbedeutend wie alles andere, um das wir uns kümmern und Gedanken machen. Wodurch wir leiden und andere nicht leiden, unemotional, intellektuell oder aus purer Dummheit, über etwas wir nicht leiden können und loswerden möchten und leben dazu ohne langfristige Bedeutung.
Die Frage nach dem Grund für meine Notizen war gewiss nur eine rhetorische Frage an mich selbst. Die Antwort ist einfach: Geschichte wiederholt sich. Geburt, Leben, Tod. Das gilt für alle Systeme auf diesem Planeten. Viel mehr bewegte mich persönlich eine andere Frage: Kann ich nicht analog sterben? Überraschung? Das ist ein relevantes Thema – für mich. Alles ist berechnet, die Algorithmen bestimmen mein Sterben. Ich bin mir sicher, dass ich lediglich ein Experiment bin. Nein, nicht nur hier im Labor, ganz allgemein. Ich scheine demnach noch etwas wert zu sein. Für wen? Mein Wissen ist digitalisiert, meine Gene gesichert. Ich glaube, sie sind unsicher, ob da nicht doch etwas ist, was sie nicht erfasst haben. Obwohl ich lediglich ein kleines Rad bin, ja ich muss sagen, war. Oder besser: ich habe ein kleines Rad gedreht, jetzt werde ich gedreht. Ich kann mit meinem Geist reisen. Nicht  nur in die Vergangenheit. Die Zukunft ist bereits programmiert und mir, in diesem Versuchslabor, verkabelt und mit Bildern versorgt die ich bei Bedarf abrufen kann, als Simulation zugänglich. Allerdings werden mir auch Sequenzen eingespielt, die ich mir nicht aussuchen kann. Anfangs war ich geschmeichelt und an der Technik interessiert. Man – ich sage hier mal: eine bestimmte Forschungsstelle in Sachsen, ländlich abgelegen – hat mir nicht das ewige Leben versprochen. Vielmehr eine Digitalisierung meines Wissens, später meiner Emotionen. Sie wussten selbst nicht, was am Ende daraus werden würde. Man nahm an, dass die technischen Möglichkeiten alles Denkbare übertreffen würden. Denken und Emotionen eines Reichsbürgers. So ist es auch gekommen. Mein Körper ist nicht mehr wichtig, eine Hülle. Aber mein Geist, mein Intellekt, noch bin ich Zeitzeuge. Vielleicht wird man mich im Metaverse-Reich ausstellen. Vielleicht auch abschalten. Dazu später mehr.
Warum ich? Vielleicht, weil ich ein gutes Beispiel für Anpassung bin? Weil ich überlebt habe? Nicht nur die eine Seite hat ihre Überlebenden, auch die andere. Außerdem war ich nützlich, in den Jahren nach der großen Reinigung der Systeme.

Ich bewegte mich im Maschinenraum der Gesellschaft, denn ich bin Jurist geworden. Juristen können alles sein, da sie nicht unbedingt sie selbst sein müssen. Ich kann mich demzufolge jedem System anschließen. Der Vorgang der Auslegung von systemimmanenten Paragrafen ist immer gleich. Man dient den jeweiligen Herren. Ich bin ein Mann der Tat gewesen und konnte in verschiedene Rollen und Masken schlüpfen.  Am angenehmsten war es in der Zeit des Nationalsozialismus, als Adjutant des Hamburger Gauleiters Kaufmann. Ihm habe ich geholfen, Hamburg von Kommunisten, Juden und Sozialdemokraten zu säubern.
Kaufmann hatte diesen Tick, dass niemand mit der Guillotine hingerichtet werden sollte, da diese ein Instrument der bürgerlichen Revolution wäre. Also mussten wir ein Handbeil aus Lübeck besorgen. Nun ja.  Später war ich im RSHA, dem Reichssicherheitshauptamt. Dann Kriegsgefangener bei den Amis. Bis 1947. Kaufmann, der alte Lump, kam später wieder nach Hamburg. Der alte Nazi hatte sich wieder angepasst und lebte gut hier in einer bürgerlichen Umgebung.
Ich erinnere mich noch an ein Gespräch mit ihm, etwa drei Jahre nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten. Das musste 1936 gewesen sein. Da saßen ein paar Henker zusammen. Ich erinnere mich noch an das Gespräch in einer jovial gehaltenen, selbstgefälligen Atmosphäre. Kleine Leute, die plötzlich ganz groß rauskommen wollten. Anhand dieses Gesprächs zeigt sich die neue Ordnung. Alles musste „Ordnung“ sein. Auch das Töten verlangte nach Ordnung. Hier ist ein schönes Beispiel, eine Szene in Kaufmanns Büro, Nazi „Reichsstatthalter“ Hamburgs:

„Nehmen Sie doch das Handbeil, das ist ja jetzt gesetzlich zulässig.“ Max Lahts, Präsident des Strafvollzugs Amtes, einer der willigen Vollstrecker des Gauleiters Kaufmann, lächelte zu diesen Worten.

„Die Guillotine ist sicherer, wir haben noch keine Henker, die mit dem Handbeil Erfahrung haben, entgegnete der Lübecker Staatsanwalt, der gekommen war, um sich die Hamburger Guillotine auszuleihen.

„Wir sind in Hamburg schon seit 1934 erfolgreich mit dieser Methode. Sie kennen ja die Einstellung vom Reichsstatthalter Kaufmann: Die Guillotine als Überbleibsel der Revolution gehört abgeschafft. Die Todesstrafe soll mit dem Handbeil vollstreckt werden.

Gut, natürlich, grundsätzlich habe ich aus praktischen Gesichtspunkten nichts dagegen.

Wollen Sie sich aber wirklich gegen Kaufmann stellen? Der hat im Moment „Oberwasser.“

Max Lahts war sich nicht sicher, ob er seinen Vorgesetzten, seinen Gauleiter Kaufmann, der zwischenzeitlich zum Reichsstatthalter befördert worden war, überzeugen könnte.
„Sie könnten hier eine Ausnahme machen, wenn die Fachleute fehlen.“

„Gut, ausnahmsweise lässt sich das vielleicht einrichten, ich prüfe das.“
Der Lübecker Staatsanwalt bedankte sich. „Wir wollen den Kutscher Johannes Fick noch in diesem Jahr hinrichten.“
„Wenn es klappt, sollten wir noch über die Kostenübernahme sprechen. Wir müssen für den Transport zwei Mann abstellen, die Verladung dauert etwa zwei Stunden, der Aufbau drei bis vier Stunden, wenn drei geeignete Beamte mitfahren. Ach, die Maschine muss hinterher noch gereinigt werden. „Dann das Ganze retour.“

„Ich denke, die Kosten spielen keine Rolle,“ erwiderte der Staatsanwalt erleichtert ob der sich abzeichnenden Lösung.
„Wissen Sie was, bringen Sie den Mann doch einfach nach Hamburg!“ sagte Lahts.
Der Lübecker suchte Gründe dafür, das Urteil in seiner Stadt zu vollstrecken und insistierte: „Wir müssen uns auch als Juristen hier klar verhalten.“

„Eitelkeiten“, sagte Max Lahts, dem noch eine lange Karriere als Präsident des Strafvollzugs Amtes bevorstehen sollte. „Juristen überleben immer. In jedem System. Wir sollten uns hier um eine grundsätzliche Lösung kümmern. Ich werde das bei Kaufmann vortragen.“
Kaufmann hatte sich vorgenommen, in Hamburg durchzugreifen.
„Nicht mal mit der Vollstreckung von Todesurteilen kommen die in Lübeck voran.“ Er drückte seinem Adjutanten Ellerhusen ein Stück Papier in die Hand. „Hier etwas anderes. Sehen Sie zu, dass Sie der Verfasser dieser Hetzschriften habhaft werden.
„Die Kunst des Selbstrasierens, einfach lächerlich!“
Aus Überzeugung aber auch zur Erfüllung seiner Bewährungsaufgabe als Gauleiter Hamburgs nahm er sich vor, diese Stadt vorzeigen zu können. Er wollte ganz im Sinne seines Führers die Hamburger emotionalisieren. Die Gehirne der Menschen mussten ausgeschaltet werden; durch Fahnenmeere, Fanfaren, Marschkolonnen, Flammen, Fackeln, Spruchbänder und Ansprachen muss das Volk in Verzückung versetzt werden. Wie Hitler es verlangt hatte, strebte Kaufmann die Selbst Austilgung des Individuums und die permanente Besinnungslosigkeit der Massen an, um sie den Nationalsozialisten gefügig zu machen. Eine Masse, die nicht mehr darüber nachdenkt, was Recht und was Unrecht ist. Kaufmann hatte ähnliche Züge wie Hitler, beide berufliche und menschliche Versager, die ihre Konzentrationslager im Hirn auf die Menschheit übertrugen. Das KZ als Abbild des ursprünglichen Lebens, den Grund der Matrix. „Die werden wir schön rasieren,schließen Sie sich mit den Fahndungskommandos kurz. Die wissen schon, wie man den Bengels beikommt.“
Ellerhusen zögerte.
„Was befürchten Sie, Ellerhusen? Niemand wird uns je zur Verantwortung ziehen, wir halten uns an Gesetze.“ Er lachte kurz auf. „Sie wissen schon, was ich meine. Jede Zeit braucht ihr spezielles System, spezielle Leute. Das sind wir! Wir halten uns an die Gesetze und verschaffen diesen ihre Wirkung.“

Ellerhusen salutierte und trat ab.

Kaufmann blieb nervös zurück. Immer noch ließ er sich trotz seiner Uniform und hinter seinen einstudierten Gesten leicht verunsichern. Er war immer ein Verlierer gewesen. Mehrfache Schulwechsel ohne Schulabschluss, keine Fronterfahrung, obwohl er sich freiwillig gemeldet hatte, die Lehre abgebrochen. Sein Leben änderte sich, als er nach der Beteiligung an mehreren terroristischen Anschlägen Karriere in der NSDAP machte. Goebbels wird mich schon raushauen, wenn’s hier nicht gleich nach Plan läuft. Auf die tiefe Freundschaft zu Goebbels hatte er sich schon einmal verlassen können, als er im Großgau Ruhr scheiterte. Dem roten Hamburg würde er es schon zeigen.

Am nächsten Tag rief Kaufmann Ellerhusen zu sich.
„Ellerhusen, wir müssen hier in der Stadt mehr Flagge zeigen, wörtlich und im übertragenem Sinne. Ich habe letzte Woche mit einigen Unternehmern gesprochen, die stehen dem Nationalsozialismus sehr wohlwollend gegenüber. Sie wollen sich aber erst zeigen, wenn unsere Sache sicher ist. Sie sind mir verantwortlich für die kleinen Leute und für die Aktionen auf der Straße.“

Ellerhusen machte einen sehr speziellen Vorschlag. „Sie sollten mehr Präsenz und Stärke bei unseren Leuten zeigen, dann trauen diese sich auch mehr zu.“

„Genauer bitte“.

„Sie sollten bei den Folteraktionen dabei sein und vorbildlich handeln“.

„Ich soll selbst foltern?“

„Ja“.

„Ich denke darüber nach. So lasch wie die im KZ Wittmoor mit den Gefangenen umgehen, wollen wir es jedenfalls nicht einreißen lassen.“

„Unsere SA-Männer könnten als Fahndungskommandos agieren.“

„Wir dürfen das Bürgertum nicht zu sehr verschrecken, aber im Grunde haben die hohen Herren die gleiche Anschauung, da bin ich mir nach den Gesprächen sicher. Wir müssen sie langsam daran gewöhnen und noch mehr roten Terror erzeugen oder inszenieren.“ Die beiden lachten. „Übrigens“, fügte Ellerhusen an, „die Justiz drückt bei der Befreiung unserer SA-Genossen auch ein Auge zu, wenn die mal über die Stränge geschlagen haben. Ellerhusen zwinkerte linkisch mit den Augen.“ Von der Seite der Justiz haben wir nichts zu befürchten.“

„Immer nützlich, die Justiz“, bestätigte Kaufmann.

Einige Wochen später konnte Ellerhusen berichten lassen:

„Das Recht der Straße hat sich die SA in jeder Weise erkämpft, und die Roten wissen, dass in St. Georg für sie ein ungleich gefährlicheres Pflaster ist, als es etwa die Neustadt war oder gar Hammerbrook, wo sich kein SA-Mann allein sehen lassen kann, ohne angefallen zu werden. In St. Georg ist das vorbei. Die SA ist stark und wach. Wir sind auf dem richtigen Weg.“

„Ellerhusen, suchen Sie doch mal ein paar kleine Parteigenossen aus, die wir auf die Kommunistische Partei und die illegalen Gruppen ansetzen können. Ich denke da auch an Stadtteile wie Winterhude und Eimsbüttel. Reden Sie mal mit den Kampfgenossen vor Ort.“ Kaufmann schlug eine Mappe auf. „Und schauen Sie mal hier: Ein Dankesschreiben vom Reichsinnenminister. ,… danken wir Ihnen für die Gewinnung der Hamburger Kaufmannschaft und Wirtschaft. Wir freuen uns außerdem über die zunehmende Arisierung des Handels und der Produktion. Na, das ist doch was. Also bereiten Sie was vor, die Kneipen und Betriebsbesichtigungen, da können wir was verteilen.“

Welche Absurdität. Niemand fand etwas dabei. Aus heutiger Sicht ein Schauspiel.Absurditäten werden uns auch in den nächsten Szenen begleiten. Versprochen. Die Welt hat sich mittlerweile daran gewöhnt.

Hinweise: Woody Allen: Film. Dr. Seltsam, oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben.
Jens Gärtner: Die Kunst des Selbstrasierens Roman, Feldhaus Verlag

Ambigue Begegnung – Srebrenicia

Lamellen – Begegnungen – eine Vorgeschichte von Jens Gärtner und Svenja Hirsch. Aus: Ambigue Begegnungen, Bod Verlag.

In Screbrenica wurden im Juli 1995 während des Bosnien Krieges über 8200 Jungen, Männer, Greise, einfach jede männliche Person ermordet. Das Massaker wurde unter der Führung von Ratko Mladic (Armee der Republice Srpske, der Polizei und Paramilitärs) verübt.

Das Fenster geht über die gesamte Zimmerfront. Auf derFensterbank ein Blumenkübel mit abgebrochenen Stielen. Ich sollte sie mehr pflegen, mehr gießen. Sie sehen traurig aus, trocken und verdorben. So wie ich. Das Licht des Computer-Bildschirms färbt bläulich auf die Zweige ab, auf meine Hände. Seit einer halben Stunde beobachte ich das Farbspiel, starre apathisch aus dem Fenster. Ein Wohnblock neben dem nächsten, aufgebaut in Reih und Glied. Zwischendrin nur die Balkone, kleine Terrassen und Gärten, ein schmaler Gehweg.
Von der Seite her rauscht die Straße. Die Fenster gegenüber sind gardinenverhangen.
Alte Leute, denke ich und schaue kurz zurück auf den Bildschirm. Nur das eine, schräg rechts, hat keine weißen, fließenden Spitzenstoffe. Ein Lamellenrollo verdeckt, wenn etwas verdeckt werden soll. Zeigt, wenn etwas gezeigt werden soll, oder deutet an, was sich dahinter verbergen könnte. Ich kneife die Augen zusammen, schaue dann schnell wieder weg. MeineGardinen sind weiß und schwer, mit großen Ösen, nur zugezogen, wenn ich schlafe. Sonst kann jeder von gegenüber sehen, wie ich alleine und zusammengerollt auf meiner 90 cm breiten Matratze liege. Kein Platz für einen zweiten Menschen in der Ein-Zimmer- Wohnung. Jetzt sind die Gardinen zu beiden Seiten aufgezogen, geben den Blick auf mich an meinem Schreibtisch frei.

Hinter den Lamellen ist ein Schatten. Ein Kind oder ein sitzender Erwachsener. Schreibtischhöhe, meine Höhe. Er bewegt sich und wird länger. Kein Kind, ein ausgewachsener Mensch. Steht frontal, entweder mit dem Rücken oder Gesicht zu mir, breites Kreuz, ein Mann. Er könnte mich jetzt gut beobachten oder sehen, dass ich ihn beobachte, denke ich und schaue weiter zu den Lamellen. Der Schatten bewegt sich, ein zweiter kommt dazu, hinten aus dem Licht einer geöffneten Tür. Oder dem, was ich als diese Tür erkenne. Ich arbeite weiter, öffne Back-Ends, tippe Codes in Masken und aktualisiere. Die Zeit vergeht, ich fülle die Online-Shops meiner Kunden mit neuen Produkten. Trash, denke ich, doch er bringt mir Geld. Bezahlt die Ein-Zimmer-Wohnung mit dem schmalen Bett. Geradeso. Bestandskunden, die ich in meiner guten Zeit als selbstständige OnlineShop-Managerin akquiriert habe. Jetzt mache ich kaum noch Akquise, die Kunden schwinden, die Kontakte generell. Sie gehen mir aus. Drüben brennt noch Licht. Als ich den PC runterfahre, ist es bei mir stockdunkel. Dann werden auch die Lamellen sorgsam von innen geschlossen.

Eigentlich ist es mir völlig egal, was die Leute über mich denken, Sie denken ja, was sie wollen. Ich habe meine Fenster gern offen, frei von Stoff, anders als viele hier. Biete, wem auch immer, Einblick. Manchmal nur ein wenig durch schräg gestellte Lamellen. Andere haben allerdings Gardinen, vielleicht nur, um sich dahinter zu verstecken. Die Häuser stehen sich eng gegenüber und geben Einblick in das 100fache Theater in den Schubkästen. Wie Puppenstuben. Wohnzimmer, Schlafzimmer. Wenn die Häuser nach Norden ausgerichtet sind, kann man auch in die Küchen blicken, in die Töpfe gucken. Sehen, wer alleine lebt, Familienleben, wechselnde Partner, nackte Menschen in allen erdenklichen Situationen. Schamlos, vergesslich. Das alles wird von vielen gar nicht mehr wahrgenommen, denke ich, sie nehmen es wie Autoverkehr, in den sie sich einfügen. Gedankenlos,eng beieinander und dennoch anonym. Wen interessiert das schon. Gegenüber sehe ich im Hintergrund eine bläulich illuminierte Silhouette, die sich im Fenster spiegelt. Wieder so eine einsame Person, die sich am Computer festhält, bis sie einschlafen kann. Ich schließe die Lamellen.

Ich sitze gern am Fenster. Wenn ich mich zu sehr beobachtet fühle, schließe ich die Lamellen auf eine Weise, die mir die Möglichkeit lässt, hindurch zu blinzeln und das Geschehen auf der Straße zu verfolgen.

Auch die mittleren Etagen kann ich dann einsehen, dass reicht mir meistens. Ich habe mich einmal in das Treppenhaus gegenüber begeben, um auszuprobieren, was man von dort aus sehen kann. Manchmal, wenn ich jemanden bemerke, spiele ich auch mit der Fensterverdunklung. Egal wer da guckt. Ein Angebot im Schubkastentheater, ja das biete ich manchmal.

In den nächsten Tagen brennt die Sonne in meine Wohnung. Tagsüber muss ich den linken Vorhang ein Stück zuziehen, um nicht komplett zu verbrennen. Ich arbeite, sitze, starre gegen den Stoff. Wie eingepfercht in den eigenen vier Wänden, der Blick kann nicht weit schweifen, er bleibt nur wenige Zentimeter weiter stehen, verirrt sich in dem Weiß, bis er ermüdet aufgibt. Nachmittags lässt sich der Vorhang endlich wieder ganz öffnen. Mein Blick wandert jedes Mal zu den Lamellen, jedes Mal dasselbe Spiel: Ein Schatten, der hinter dem Rollo sitzt, sich erhebt, einige Zeit wie erstarrt verweilt. Ich fühle mich beobachtet und beobachte doch penetrant zurück. So geht es bis zum Freitag. Keine Alternative. Nicht jetzt. Seit zwei Jahren wohne ich hier. Davor war mein Leben fast vier Jahre angenehm. So dachte ich zumindest. Oder vielleicht waren es weniger als vier Jahre, ich bin mir nicht sicher, habe den Wendepunkt weit verpasst. Erst hinterher, als es schon zu spät war und ich mit gepackten Kisten an der Straße saß, dämmerte es mir langsam. Zu zweit war ich. Doch irgendwann spürte ich Einsamkeit.

Die kleinlichen Vorwürfen, zuerst kaum spürbare Verletzungen, die, je mehr es wurden, auch die Wunden tiefer rissen. Die Ablehnung.

Erst nur von romantischen Gesten: Zwei Weihnachtsplätzchen auf einem Teller, einer in Schlüsselform und einer als Herz. Und die andere, versteinerte Miene mir entgegensah, die Worte „ich kann so etwas nicht“. Dann die Ablehnung von dem, was ich war: Meine Lieblingsbilder, meine Bücher, es war alles nicht mehr genug. Nicht mehr auszuhalten, nicht erwünscht. Ich habe das gelernt. Ich habe es für mich angenommen, Romantik gebe ich keinem mehr. Deshalb das 90-cm-Bett, die kleine Wohnung, nur mit mir am PC.

Ich bin erschöpft vom vielen und langen Sitzen, die Augen brennen. Ich ziehe mich aus dem Stuhl hoch, stemme die Hände in den unteren Rücken und drücke das Kreuz durch, sodass es knackt. Frontal stehe ich an meinem Fenster, wieder beobachtend, was diesmal hinter den Lamellen passiert.

Heute regnet es endlich. Häufiger als sonst sind die Gardinen in den Wohnungen gegenüber zurückgezogen. Wahrscheinlich taten es die meisten, so, als biete der Regen ausreichenden Schutz vor eindringenden Blicken. Eine natürliche Längslamelle. Oder es waren Hoffende, die auf besseres Wetter warteten, die Sonne zurücksehnten. Zeitweise zogen die Wolken dicht und schwarz über die Häuser, dass sie wie die Nacht selbst die Dunkelheit vor die Fenster und auf die regennasse Straße warf. Ich blickte in das Grau der Straße, die sich mit dem Himmel zu vereinen schien. In dieses Grau hinein trat eine noch dunkler gekleidete Person, mit einem schwarzen Schirm geschützt, in den Windfang vor der Eingangstür. Das konnte ich von meinem Platz aus gerade noch erahnen. Dann klingelte es bei mir. Ich öffne nicht. Ich will nicht. Ich kenne hier niemanden. Nur gegenüber eine Person, deren Schatten ich hin und wieder sehe. Das reicht mir. Es gibt keine Person mehr, die mir nah ist, also kann ich nicht gemeint sein. Dennoch spüre ich, dass da etwas ist, was ich weiß und das es noch Menschen gibt, die mich vielleicht kennen. Srebrenica ist weit weg. Aber eine Angst ist ganz nah, immer bei mir. Eine Angst, die ich nicht erklären kann. Die ich aus mir verbannen will, indem ich für mich bleibe. Schemen reichen mir.

Der erste Schatten steht am Fenster, hinter ihm Licht, dass durch die Türöffnung steht. Ein Türlichtfeld. Der zweite Schatten bewegt sich in den Raum. Dann stehen beide ganz dicht beieinander, umarmen sich vielleicht. Der zweite bewegt sich einen Schritt zurück, beugt sich zu dem ersten. Sie küssen sich bestimmt, denke ich. Ein warmes Gefühl durchwühlt mich. Schnell und zaghaft. Dann weicht das Gefühl zurück. So sieht auch der zweite Schatten aus, als ob er zurückweiche. Ich kneife die Augen zusammen, schiebe das Kinn nach vorne. Ich stehe einfach da. Die Szenerie kommt mir unwirklich vor, sie fällt heraus aus dem, was die vergangenen Tage hinter den Lamellen geschehen ist. Oder von dem, was ich denke, dass es geschehen sein könnte. Der Schatten bewegt sich minimal, es scheint, als blicke er zu mir herauf. Er verharrt. Der zweite Schatten sieht so aus, als bewege er sich auf den ersten zu. Ich halt die Luft an. Es geht alles ganz schnell. Kaum eine Millisekunde, so schnell, dass ich es nicht begreifen kann und der erste Schatten fällt nach unten. Nichts ist mehr zu sehen. Nur der zweite Schatten, wie er langsam bis ganz ans Fenster tritt, den Kopf gehoben geradeaus, die Lamellen, die sich langsam meinem Blick verschließen.

Ich kenne die Frau nur flüchtig. Ich erkenne sie in ihrem alt gewordenen Gesicht. Aber ich weiß nicht mehr, wer sie war oder gar wie sie hieß. Es stellt sich auch kein Gefühl ein. Sie sagt, sie kenne mich gut. Sie lacht. Warum lacht sie, denke ich. Ein Tee? Ein Kaffee? Etwas anbieten oder keine Zeit haben? Ein Tee wäre jetzt doch gut, sagt die Frau. Ich will meine Lamellen ein wenig weiter öffnen, damit die Person von gegenüber, die immerzu bläulich gefärbte Person, teilhaben kann an meinem Besuch, der mir nach der ersten Überraschung gar nicht mehr bekannt vorkommt. Die weiß, dass ich zurück gucke, sie muss es wissen, sonst macht alles keinen Sinn. Sie könnte Zeugin sein. Ich weiß noch nicht wovon. Sie steht da am Fenster und ich scheine ein Teil von ihrer Welt zu sein. Erst will ich das Teewasser aufsetzen. Es klingelt wieder. Die Frau öffnet, bevor ich bereit bin. Ich weiß nicht, warum ich das zulasse.
Es ist außerdem völlig unaufgeräumt. Was soll ich zuerst machen? Schnell schiebe ich den großen Kleiderständer beiseite. Meinen fast zwei Meter hoher Butler, der wie immer mit Kleidungsstücken, die ich in den letzten Wochen getragen hatte, viel zu voll gepackt war. Meine Aktion ist zu abrupt und das Monstrum kippt, in Zeitlupe zwar, unaufhaltsam zu Boden. Er fällt leicht, weich und leise, gemildert durch den Berg von Klamotten. Lärm macht lediglich das rahmenlos verglaste Poster, welches im Fallen von der Wand gerissen wird. Dann stehen unvermittelt zwei Frauen im Raum. Sie lachen, sie freuen sich scheinbar über das Chaos. Sie sehen sich an und lachen wieder, die zuletzt gekommene Frau sagt:“Ich gehe dann mal in die Küche.“ Sie schwingt sich dynamisch auf einem mit einem dunkelgrünen Highheal beschuhten Fuß in Richtung Küche. Woher weiß sie, wo die Küche ist, denke ich noch, bevor die erste Frau, die mit dem alten Gesicht sagt: „Wir haben Kekse mitgebracht.“ Ich komme nicht darauf. Wer ist sie, und Kekse, was für Kekse? „Wir trinken erst einmal einen Tee und dann räumen wir auf, nicht?“ „Woher kennen Sie mich?“, frage ich. Mittlerweile sitze ich auf meinem Sofa, von wo aus ich sowohl den Raum als auch das Fenster sehen kann. Sie sagt nichts, lächelte aber freundlich. Dabei blitzten zwei silbern überkronte Schneidezähne aus ihrem Mund.
Das Dorf, sagt sie nach einer Weile, und jetzt blitzen auch ihre Augen. Aber sie sieht aus, wie jede Frau aus einem Dorf, jedenfalls in ihrem Alter sieht sie aus, wie jede Frau. Eine beliebige Nachbarin aus einem Dorf , ja genau, ich fange an, mich zu erinnern. Ein Dorf an der Drina, in einem Chaos der „Säuberung“. Was machen sie jetzt hier? Ich sehe sie in einem Strom von Menschen, die in alle Richtungen laufen. Die einen Blauhelmsoldaten anschreien, eine Straße blockieren, um Zeit zu gewinnen. Aber das ist sinnlos, denn die Blauhelme verschwinden, die Menschen sind auf sich gestellt. Jeder für sich. Ich für mich. Der Lärm der Granaten die dann kommen, ist verschwunden. Hier ist es still. Hier soll es still bleiben. Das laute Töten geht mich nichts mehr an. Ich nehme einen dieser Kekse. Sie schmecken bitter und zuckersüß. Ich nehme noch einen. Wenn ich kaue, muss ich nicht reden. Worüber auch reden? Blute ich?

Kann das Gewalt gewesen sein? Körperliche. Seelische meine ich zu kennen – schon als ich mit ihm zusammenzog, war ich nicht gänzlich willkommen. Und dann nach zwei Jahren die Haussuche. Ich suchte, sollte aber nicht im Grundbuch stehen. Er traute mir nicht. Er meinte, ich könne ihn ausnehmen. Stattdessen wollte er mich ausnehmen. Ich sollte Miete zahlen, dort im Eigenheim, zahlen für etwas, das ich am Ende nicht besitzen würde, damit er es am Ende besaß. Ich begriff das erst später. So isoliert war ich, dass ich es kaum mehr spürte. Als wäre auch mein Schatten nach unten gefallen, nicht mehr sichtbar. Mein Glück? Ich hatte es nicht verteidigt gegen ihn. Gegen ihn und für mich. Und jetzt sitze ich hier. Ich kann an dem Leben der anderen teilnehmen, wenn ich durch die Scheiben sehe. Mein Kopf erledigt den Rest. Hinter Scheiben können sie mir nichts anhaben, diese Menschen. Wie die wilden Tiere im Zoo. Ich sehe sie und ihr Leben. Glaube, in Kontakt zu stehen und doch können sie nicht an mich ran, mir nichts anhaben. Mir nicht weh tun.

In meinem Kopf dreht sich alles. Zu laut und schwer, wie Kreislauf an einem heißen Sommertag. Habe ich je jemanden in das Haus gegenüber gehen sehen? Und wenn ja, wie könnte ich den- oder diejenige zuordnen? Als Gast hinter den Lamellen? Wenn ein Schatten runter fällt und
wegbleibt. Ist er dann tot? Oder durch ein Licht weg geblendet? Hörte man einen Schuss? Etwas, das nicht im Stande war, zu mir herüber zu dringen, wie ein Schlag oder ein Stich? Und sollte ich rüber gehen? Sollte ich die Polizei rufen, würde man mich für verrückt erklären? Hat es hinter den Lamellen schon eine Putzaktion gegeben, alle Spuren verwischt? Ein Mord oder nur ein ermordeter Schatten?
Ich stehe vor der Tür, die Jacke fest um mich gewickelt. Friere. Bekomme kalte Füße. Alles Grau in Grau. Ich starre auf das Klingelschild. Welcher Name könnte zu den Lamellen passen? Peters? Korniman? Jemand kommt aus dem Haus. Der erste Mensch seit Tagen, den ich ohne Fenster zwischen ihm und mir anschaue. Ich reagiere schnell, nicke, lächle, fasse an die Glasscheibe der Tür und halte mir diese in den Hauseingang auf. Wieder dieses Kreislaufproblem. Mir ist schwindelig. Menschen. Menschen machen mich wahnsinnig, wenn keine Scheibe zwischen ihnen und mir ist. Und doch spüre ich, wie ich nach dem Kontakt geradezu lechze, ich fühle mich wie ausgehungert. Als habe ich mir eben gerade, durch die Begegnung auf der Treppe eine Spritze gesetzt, gefüllt mit einer höchst abhängig machenden Droge. Reingedrückt, ab in die Blutkreislaufbahn. Mehr davon, sonst fange ich noch an zu zittern. Also steige ich die Treppe hinauf. Erster Stock. Hier müsste es sein. Es duftet nach Tee. Soll ich klingeln?

Im Treppenhaus steht noch eine Frau. Ich werde verrückt, werde ich verfolgt? Aber die im Treppenhaus kommt mir bekannt vor. Aus den Augenwinkeln heraus scheint die Frau Ähnlichkeit mit der bläulich beleuchteten Person von Gegenüber zu haben. Ich erschrecke. Machten die gemeinsame Sache? Komm leg dich aufs Bett, hatten sie mich aufgefordert. „Du bist ja ganz blass, lachen sie. Die zweite Frau, die zuletzt gekommen war und genau wie die erste keinen Namen nannte, hatte sich schon rückwärts auf mein Bett fallen lassen. Wie waren sie überhaupt im Schlafzimmer gelandet? Weg von den Lamellen! Die erste zog mich am Arm und biss mir in den Hals gebissen. Und gelacht. Dann schubst mich die eine und die andere zog. Ich fliege auf das Bett. Jetzt schreit die zweite: „Was machst du hier in meinem Bett?“ Sie ziehen mir, als ich im Bett zappel, den Gürtel aus der Hose und freuen sich. War das noch Spaß? Dann stoßen sie mich mit den Füssen auf den Boden, treten zu und versuchen mich mit dem Gürtel zu treffen. „Für Srebrenica“, schreien sie. „Wir ziehen Dir die Haut ab.“ „Ich hab doch nichts gemacht!“ , brülle ich. „Genau das ist es ja, du hast nur zugeguckt, du Feigling“. Ich will etwas erwidern, erklären, aber sie wollen nicht reden. Ich drehe mich zur Seite trample und strample mich frei. Mit letzte Kraft renne ich aus der Wohnung gerannt. Ich verliere meine Sinne. Jetzt steht diese Frau hier. Ist sie jetzt in Gefahr?
Kann ich sie da oben rein laufen lassen? Ich laufe an ihr vorbei, über die Straße in das Treppenhaus hinein, was mir von meinen Besuchen bereits vertraut ist. Von hier aus blicke ich in meine Wohnung, in der gerade die Jalousien, die ich vorhin weiter geöffnet hatte, vollständig geschlossen werden. Ich blicke noch einen Moment hinüber. Mein Herz rast und ich schwitze. Diesen Zustand meines Körpers bekomme ich nicht unter Kontrolle. Auf einem Treppenabsatz ruhe ich mich aus, was ich nicht lange aushalte. Als ich wieder aufstehe, sehe ich hinter den Lamellen meiner Wohnung einen schwachen Lichtschein. Er wirkt nicht wie ein Lampenlicht, das würde man in diesem noch schummrigen Tageslicht nicht erkennen. Was für ein Licht kann das sein? Ein Zeichen? Für mich? Ich stehe unschlüssig im Treppenhaus. Soll ich bei der Person klingeln, die immer im bläulichen Licht steht? Mit welcher Begründung? Ich denke, sie sieht mich auch. Fühle, dass sie mich kennt, da wir uns gewissermaßen täglich sehen. Ich wolle „Hallo“ sagen? Aber ich musste doch wissen, ob sie in meiner Wohnung war. Sie war doch meine einzige Bekannte von Gegenüber. Jedenfalls sehe ich sie immer. Wenn sie am Fenster ist. Ich muss doch auch für sie ein Bekannter sein. Unentschieden blicke ich wieder über die Straße. Sie scheint immer breiter zu werden. Ein Schwindel erfasst mich, mein Kopf weitet sich. Die Straße färbt sich blauschwarz zu einem Fluss. Das Wohnhaus gegenüber schrumpft zu einem Häuschen, wie das in Srebrenica. Srebrenica 1995, das Haus das brannte. Aus dem liefen jetzt zwei Frauen heraus und schrien. Ich sah sie weglaufen, voller Angst. Männer liefen ihnen nach. Schüsse fielen. Die Alte mit den Metallzähnen wurde jetzt in meinem Kopf immer jünger und lief rückwärts. Ich erinnerte mich nicht mehr, wer war ich da in Srebrenica, in dem Massaker. Das Haus am Fluss brannte jetzt lichterloh.

Der Mann ist verrückt, nicht ich! Ja, es ist ein erwachsener Mann. Ich habe ihn gesehen. Eben. Ich stand vor seiner Tür. Dreckiges Weiß, Schrammen im Holz. Die Tür wurde von Innen aufgerissen. Er. Nackt. Keuchend. Als habe man ihn gejagt. Schweissüberströmt, wie ein Urmensch aus einer anderen Zeit. Er starrte mich an. Wie ein Gespenst, auf das er gewartet hat. Ich sah an ihm hinunter. Was sollte ich sonst tun? Da fiel es mir auf, seine Hände. Rot. Auffallend rot. Er preschte an mir vorbei, so wie er war, die Treppen hinunter. Ich lief ein paar Schritte hinterher. So verrückt und aufgescheucht hätte er leicht ein Kind erschrecken können. Oder jemanden angreifen. Er könnte jemandem weh tun.

Aber was weiß ich schon über Menschen! In so vielen habe ich mich getäuscht, gerade in den mir so nahe geglaubten. Ich sehe, wie er hinüberläuft, von seinem Treppenhaus in meines. Und ich bin hier. Was tun, was tun? Ich zittere am ganzen Körper. Entzugserscheinung? Oder kann ich ihnen nicht mehr begegnen, den Menschen, so ganz ohne Scheibe, die nackte Realität vor Augen, den ganzen Wahnsinn?

Es gibt kein Zurück. Ich kann nicht hinüber, nicht in meine Wohnung. Da ist er. „Egal wo ich bin, du bist schon da“, der Satz des Todes, ein Satz, der mich an alte Zeiten erinnert. Den er zu mir sagte, im gemeinsamen Bett. Es schmerzt. Ich kann nur hier warten. Oder ganz gehen. Ein paar Straßen weiter. Zur Polizeiwache.

Weiterlesen: In Ambigue Begegnungen, BoD Verlag, ISBN 978-3749453283

Farewell and Breathing Change / Encounter Paul Celan

The one already dead
waxy thin skin
at the end of his days
or every day
just do some work
destroy what does not come true
will-o‘-the-wisp hammer
be Lenin and Stalin
lost, helpless child
a sacrifice that needs sacrifice
stay in balance powerful loser
Ship without a port
Ukraine does not answer
the oath of love
given in bearskin
he wants dead fill its emptiness
bathed in dragon’s blood vulnerable
looking in the mirror
nothing in sight
people out of breath
turn of the world
breath turn

Encounter: Paul Celan
„Half-eaten, mask-
faced corbel,
deep in the eye slit crypt:
In, up into the skull,
where you break the sky, again and again,
in furrow and whorl
he plants his picture
that outgrows, outgrows.