Im Schatten des Palantir

Kapitel 1: Ouvertüre

Es war einer dieser regennassen Tage des Sommers, an denen die Stadt in sich selbst zurücksank. Die meisten Bewohner hatten mit ihren Kindern die Stadt verlassen, um anderswo das Glück zu suchen. Das Licht hatte den Atem angehalten, und selbst die Geräusche der Straße klangen, durch den Regen gedämpft, wie durch doppeltes Glas . Im „Caligo“, einem Café mit schiefem Holzboden und jungen Bedienungen, saßen sie wie gewöhnlich am Fensterplatz: Corona, leicht zurückgelehnt, in Mantel und Handschuhen, obwohl es nicht kalt war. Und Ripp Corby, entspannt wie der Nachmittag. Zwischen ihnen standen zwei Gläser Wasser, unangerührt. Der Kaffee war längst getrunken, doch keiner drängte auf Aufbruch. Die Welt wurde wieder mal gedreht und gedreht, dass ihnen eigentlich schwindelig werden müsste. Corona erhellte aber immer wieder seinen Geist. Das war nicht unbedingt beruhigend, eher wie eine Droge. Oder wie ein guter Kinofilm, indem man selbst mitspielt, dabei weder Text noch Handlung genau kennt.
„Ich habe über unser letztes Gespräch nachgedacht“, sagte sie schließlich und streifte mit dem Finger einen dunklen Kringel vom Tisch. „Über Musk. Und Trump.“
Corby sah nicht auf. Er wusste, es war ein Auftakt. Eine Ouvertüre.
„Vielleicht“, fuhr sie fort, „haben wir uns zu lange mit dem Spektakel dieser beiden beschäftigt. Mit den Gesichtern, nicht mit den Aktionen der Personen hinter diesen Masken. Und der wichtigsten Person dahinter. “
Corby zog eine Augenbraue hoch. Sein Blick wanderte zum Fenster, wo eine Frau mit Schirm vergeblich versuchte, einen gelben Hund zu einem Zebrastreifen zu bewegen.
„Ich bin auf einen Namen gestoßen“, sagte sie. „Oder besser: wieder gestoßen. Peter Thiel.“Der Name fiel wie ein Stück Metall auf Stein. „Du erinnerst dich an die Palantír?“ Sie lächelte schmal. „Diese sehenden Steine aus Tolkien. Wer in sie blickte, sah, was an anderen Orten geschah. Doch was man sah, war nie ganz das, was wirklich war.“

Corby antwortete nicht sofort. Er wischte sich eine Krümmel vom Croissant von der Hose., wie immer, wenn er nachdachte, verschaffte er sich etwas Zeit durch kleine Ablenkungen die an sich sinnvoll waren aber nicht immer unbedingt zum jeweiligen Kontext passten.
„Du meinst… Palantir? Die Software?“

Sie nickte. „Nicht nur Software. Ein System. Ein Blick auf die Welt, der vorgibt, objektiv zu sein. Und doch ist jeder Blick gerahmt. Gesteuert. Gewichtet. Was zählt, wird gezählt. Der Rest… verschwindet.“
Ein Kellner trat heran, jung, höflich, übernächtigt. Sie winkten ab. Auch das war Ritual.
„Ich habe gelesen“, sagte Corby langsam, „dass Palantir in der Ukraine eingesetzt wird. Zielerfassung, in Echtzeit. Tablets in Schützengräben.“
„MetaConstellation“, flüsterte sie.
„Wie bitte?“
„So heißt das Programm. Es verknüpft Satellitenbilder, Bewegungsmuster, Geolocation-Daten. Es entscheidet, was ein Ziel ist.“
Corby sah sie lange an. Dann: „Ein digitales Orakel. Aber Orakel sprechen nie von sich aus.“
Sie lächelte schwach. „Und nie ohne Preis. Man muss immer etwas hergeben. Vielleicht sogar sich selbst.“
Die Geräusche des Cafés waren weit weg. Jemand lachte an einem Tisch hinter ihnen, aber es klang wie aus einem anderen Raum.
„Was mich beunruhigt“, sagte sie schließlich, „ist nicht, dass diese Software so viel sieht. Sondern dass wir anfangen, ihr zu glauben. Bedingungslos. Ohne zu fragen, wer sie gefüttert hat.“
Corby lehnte sich zurück. Die Scheibe hinter ihm war leicht beschlagen, er wischte mit seinem Jackenärmel einen kleinen Fleck frei, um besser nach draußen schauen zu können. „Thiel nennt sich Libertärer. Freiheit vom Staat. Abschaffung der Demokratie. Aber seine Systeme lieben Kontrolle.“
„Vielleicht sind wir alle nur noch Datenpunkte“, sagte sie. „Bewegungsmuster. Beziehungsmuster. Alles lässt sich verknüpfen, berechnen, verdächtigen.“
Corby schwieg lange. Überlegte.
Dann: „Und du? Was bist du, Corona?“
Ein Moment verstrich, in dem sie nur atmete, flach, aber ruhig. Ihre Antwort kam nicht als Satz, sondern als Erinnerung: An eine andere Zeit, als sie noch täglich in den Nachrichten war, in Diagrammen, auf Lippen, zwischen Türspalten. Als man sie fürchtete – und gleichzeitig benutzte, um zu sortieren, zu unterscheiden, zu messen, zu entscheiden.
„Ich war ein Symptom“, sagte sie leise. „Jetzt bin ich ein Gedächtnis.“
Draußen war der Hund inzwischen auf die Straße getreten, ohne Erlaubnis, gegen die Leine. Die Frau folgte widerstrebend.„Vielleicht“, sagte Corby, „waren wir zu sehr damit beschäftigt, den falschen Sturm zu beobachten.“
„Und haben nicht gemerkt, wer den Himmel zeichnet“, murmelte sie.
Sie standen auf. Das Gespräch war nicht zu Ende, aber es hatte eine andere Temperatur angenommen – nicht kälter, sondern tiefer. Die Art von Tiefe, die nicht mehr fragt, sondern beginnt zu erinnern.

Kapitel 2: Vera

Sie gingen nicht weit. Das Gespräch im Cafe lag hinter ihnen wie ein halbgeschlossener Traum, der zwar verblasste, aber nicht verschwand. Die Straßen glänzten noch vom Regen, die Laternen warfen ihr Licht wie unsichere Versprechen auf das nasse Pflaster. Corona trug die Hände in den Manteltaschen, doch ihre Haltung wirkte leicht – fast beiläufig. Nur ihr Blick wanderte, wie einer, der auf etwas wartete, das nicht kommen sollte. Sie bog in eine Seitenstraße, und Corby folgte ihr, ohne zu fragen. Links, rechts, eine Unterführung. Sie kamen an eine breite Kreuzung, wo ein langgezogenes Gebäude mit blankem Glas und flacher Stirnseite in die Dunkelheit ragte.

„Landeskriminalamt“, sagte sie, als würde sie ein Gedicht beginnen. Corby betrachtete das Gebäude. Es war still. Nur hinter einem Fenster flackerte Bildschirmlicht. Er wollte etwas sagen, aber Corona war schneller. „Hier läuft sie“, sagte sie. „Vera.“ Der Name blieb einen Moment in der Luft hängen. Wie ein Zitat, das man nicht ganz einordnen kann.
„Ich dachte, sie hieß Palantir?“
„Palantir ist der Stein“, sagte sie. „Vera ist die Leserin. Die Datenanalystin. Die, die Muster erkennt. Bewegungen. Beziehungen. Verdächtige.“
Sie blieb stehen. Ein Windstoß fuhr durch die Straße, brachte den Geruch von nassem Metall mit sich. Ihr Gesicht war ruhig.
„Sie glaubt nicht. Sie weiß nicht. Sie verknüpft.“
Corby trat näher. „Und was verknüpft sie?“
„Alles. Telefonnummern, Bankdaten, Bewegungsprofile. Wer wann mit wem telefoniert hat. Wer wann wo war. Wer wem Geld überwiesen hat. Was in einer Anzeige steht. Ein Name genügt, und Vera geht los.“
Sie schwieg. Dann, fast heiter: „Das nennt man dann ‘Gefahrenabwehr’. Klingt sauber, nicht wahr?“
Corby nickte langsam. „Und wer überprüft Vera?“
Corona sah ihn an, als hätte er eine rhetorische Frage gestellt.
„Du erinnerst dich an den Lockdown?“, fragte sie. „An die Stille auf den Plätzen? Die Balkone, auf denen sich Menschen zuprosteten, weil sie sich nicht mehr berühren konnten? Damals war ich nützlich. Ich war die Begründung.“ Corby sagte nichts, nickte. „Jetzt ist Vera die Begründung“, sagte sie. „Sie braucht keine Krankheit mehr. Keine Polizei vor Ort. Keine Richter. Sie braucht nur Daten. Und eine Annahme.“
Sie gingen weiter. Ihr Gang war ruhig, doch in ihrer Stimme lag etwas wie der Nachhall eines alten Liedes, das niemand mehr ganz erinnert.
„Einmal“, sagte sie, „hat mich jemand gefragt, wie es ist, zu verschwinden. Ich sagte: Es ist, wie in einer Software zu leben, die dich nicht mehr ausliest.“ „Und was ist schlimmer?“, fragte Corby. Corona sah ihn an. Ihre Pupillen waren weit, schwarz
„Ausgelesen zu werden.“ Sie schritten weiter durch die Dunkelheit. Am Ende der Straße schlug eine Tür. Ein Blaulicht flackerte kurz auf, irgendwo in der Ferne. Dann war wieder nur das Geräusch ihrer Schritte zu hören – und der Gedanke, der sich zwischen ihnen formte wie Nebel über einer warmen Fläche: Dass der Mensch sich längst nicht mehr gegen seine Schatten richtet, sondern gegen die Art, wie man sie misst.

Kapitel 3: Die Tafel im Hauptquartier

Ein Lautloser Wind wehte durch die Hinterhöfe der Stadt, als Corona und Corby eine unauffällige Haustür öffneten. Kein Schild, nur schmale Ritzen zwischen alten Backsteinen. Innen roch es nach altem Papier und schwachem Kaffee. In einem düsteren Raum, dessen Wände von Karten, Diagrammen und Bildschirmen bedeckt waren, trafen sie auf einen alten Bekannten von Corby: jemanden, der einst für das BKA gearbeitet hatte.
Corona trat näher, spürte das Licht flimmern über der großen Tafel. Ein leuchtendes Netz, wie aus vielen Fäden gewoben – ein Datenschaubild, das Bewegungsprofile, Kontaktnetzwerke und Korrelationslinien zeigte. Die Namen wirkten bedeutungslos, bis sie verknüpft waren, und plötzlich ward etwas furchteinflößend konkret.
Der Freund deutete ohne ein Wort zum Netz. Corby wandte sich um, fragte zaghaft:
„Was sehe ich da?“
Er atmete kurz und heftig, antwortete dann:
„Das ist keine Karte. Es ist eine Weltanschauung.“
Corona blickte auf den Graphen. Sie erinnerte sich: In Gedanken vernahm sie Stimmen aus einem anderen Text – dem Imperium, jenem Text, in dem die eigentliche Macht sich unbemerkt erhebt: “Das Imperium schlägt zurück,” murmelte sie vor sich hin.
Corby fuhr fort: „Vera und Gotham – Palantirs Schwester – laden Menschen zu digitalen Vermutungen ein. Aber niemand schreibt, wer beschuldigt, und wer nur verdächtig ist.“
Corona lauschte. Im Raum herrschte eine unwirkliche Ruhe.. Nur die Tafel flimmerte kalt im Halblicht.
„Wir leben schon in einer Software, die nicht mehr ausliest, sondern definiert,“ murmelte sie.
Corby ließ die Worte hängen.
„Jeder Datenpunkt verändert die Struktur.“
Ein Blinken kündigte ein neues Update an – eine Verschiebung, eine neue Linie wurde gezogen. Der Freund verzog kaum spürbar den Mund: „Wir löschen nichts. Wir verschieben nur. Und machen unsichtbare Fehler sichtbar oder unsichtbar. Alles geht.“ Corona wandte sich ab. Die Szene erinnerte sie an eine Passage aus dem Imperium schlägt zu – nicht die Kriegslinien von Hoth, wo sich in Star Wars einer riesigen Schlacht der Eisplanet in einen Raumschifffriedhof verwandelt, sondern das leise, beharrliche Imperium der Daten, das wächst, während wir zusehen:
„Der Staat … schlägt zurück … Die neoliberale Demokratie ist … Vergangenheitsform … autoritäre Krisenkapitalismus das Modell der Zukunft.“* 

Corby hörte ihren Herzschlag im Raum – gedämpft, aber nicht gebrochen.
„Was bleibt von Freiheit, wenn du zur Annahme wirst?“ fragte er.
Corona blieb still. Sie betrachtete die Linien und Flächen der Visualisierung – jede Korrelation war eine Entscheidung, jede Entscheidung ein Schatten.
„Einmal“, flüsterte sie, „hat mich jemand gefragt, wie es ist, zu verschwinden. Ich habe gesagt: Es ist, wie in einer Software zu leben, die dich nicht mehr ausliest.“
Corby erinnerte sich: „Und du sagtest: Schlimmer ist, ausgelesen zu werden.“ Sie nickte. „Ich wiederhole mich gern in diesem Punkt: Wir wurden nicht als Subjekte enttarnt. Wir wurden zu Datenpunkten.“
Töne wie fallende Regentropfen klang durch die Szenerie, obwohl es drinnen trocken war. Der alte Freund machte eine Geste in Richtung Karte: „Nun zählt die Polizei nicht mehr Verbrechen. Sie zählt Verdacht.“
Corona spürte, wie eine Tür in ihr aufging – keine echte Tür, sondern ein Schleier zwischen dem, was war, und dem, was hochtechnologisch selbst schon entscheidet.
„Und Vera“, sagte sie leise, „ist die Leserin, der wir nichts zu entgegnen haben.“
Corby sah sie fragend an, rotes Licht spielte über die Bildschirme. „Wer kontrolliert die Leserin?“

Corona dachte kurz an die stillen Plätze der Lockdown-Zeit, an die Bänke, an die Melancholie der Signalfarben auf Balkonen voller Leere. Und sie sagte:
„Ich war nützlich damals. Ich war Begründung. Jetzt ist Vera Begründung genug.“
Sie verließen den Raum. Die Tafel blieb zurück – leise, unvergessen, unsichtbar mächtig. Hinter ihnen schloss sich die Tür. Und draußen, im Flur, war die Dunkelheit tiefer als zuvor, denn sie wussten: Ein Algorithmus hatte begonnen, das Licht zu schreiben.

Kapitel 4: MetaConstellation

Sie saßen wieder, wie gewohnt. Dieses Mal war es ein anderes Café – heller, moderner, mit leisen Lautsprechern, aus denen gedämpft das Echo eines Saxophons tropfte. Das Fenster war groß, aber nichts dahinter wirkte klar. Die Stadt war wie mit einem Filter überzogen – alles war da, und doch war es fern.
Corona saß schräg im Gegenlicht. Das Haar leicht hochgesteckt, der Blick offen, aber ohne Richtung. Corby, wie immer, mit der Haltung eines Mannes, der gelernt hatte, das meiste unkommentiert zu lassen.
Sie sprach nicht sofort. Zwischen ihnen lagen zwei Gläser stilles Wasser und ein dünnes Zeitungsblatt, das sie aus der Manteltasche gezogen hatte – gefaltet, mehrfach gelesen. Der Text war mit Kugelschreiber unterstrichen.

„Ich will dir etwas zeigen“, sagte sie. Und dann, wie beiläufig: „Es geht um MetaConstellation.“
Corby nahm das Blatt, las. Worte wie Echtzeit-Daten, Zielerfassung, Satellitenbilder, Krieg wanderten über die Zeilen. In der Mitte ein Absatz, fett hervorgehoben:

„Die Software MetaConstellation von Palantir verknüpft militärische Aufklärungsdaten, Geo-Koordinaten, Wetterinformationen und Live-Satellitenbilder. In der Ukraine liefert sie präzise Zielorte für Raketen und Drohnenangriffe – mit einer Genauigkeit, die menschliche Intuition ersetzt.“
Er legte das Papier beiseite. Langsam.
„Also sehen sie alles?“, fragte er.
Corona schüttelte kaum merklich den Kopf. „Sie glauben, alles zu sehen. Das ist der Unterschied.“
Draußen zogen zwei Gestalten vorbei, schnell, in sportlichen Jacken, das Gesicht gesenkt, in Eile oder Vermeidung.
„Früher“, sagte sie, „waren Informationen Versprechen. Heute sind sie Befehle.“
Corby runzelte die Stirn. „Und was bleibt dann dem Denken?“ Sie sah ihn an. „Es wird sekundär. Entscheidungen basieren auf Wahrscheinlichkeit. Ein Muster ergibt ein Ziel. Und das Ziel…“ – sie machte eine kleine, fast unsichtbare Geste mit dem Finger – „…wird ausradiert.“
Der Kellner kam, stellte zwei Gläser Tee ab, sagte nichts. Ihre Gespräche blieben ungestört, als hätten sie einen unsichtbaren Schutzraum errichtet.
„Das Erschreckende“, fuhr Corona fort, „ist nicht, dass die Software trifft. Sondern, dass sie glaubt, zu wissen, worauf es ankommt.“
Sie holte kurz Luft, dann las sie leise aus dem Artikel vor, als erzähle sie ein Märchen:
„Die Software erkennt Verhaltensmuster von Truppenbewegungen und verknüpft sie mit historischen Daten. Wenn sich eine russische Einheit etwa ähnlich bewegt wie vor einem früheren Angriff, wird die Wahrscheinlichkeit für eine erneute Offensive berechnet – in Echtzeit, auf einem Tablet, am Rande des Schützengrabens.“
Ein Moment verging. Corby stellte sich vor, wie dieser Krieg wohl war, gestorben wurde jedenfalls analog; er strich über den Rand seines Glases, als könnte er sich festhalten an der Klarheit der Form. „Krieg als Wahrscheinlichkeitsrechnung“, sagte er.
„Oder als Spiel. Nur dass keiner mehr verliert, der entscheidet.“
Draußen war ein Vogel gegen die Scheibe geflogen. Kein Knall, eher ein dumpfer Stoß – wie ein Einwand, den keiner hören wollte. Er lag jetzt auf dem Pflaster, unbewegt. Niemand beachtete ihn.
„Die Software stellt keine Fragen“, sagte Corona. „Sie rechnet. Und das Ergebnis – ist eine Gewissheit. Aber Gewissheiten sind der Tod jeder Wahrheit.“
Corby schaute sie an. Etwas war in ihm müde geworden, nicht aus Erschöpfung, sondern aus dem langsamen Verstehen, dass das Spiel sich längst verlagert hatte. Dass die Bühne leer war, weil das Stück schon in den Backstage-Algorithmen spielte.
Corona beugte sich leicht vor.
„Ich erinnere mich“, sagte sie leise, „wie sie mich damals einsetzten. Als Argument. Als Ausnahmezustand. Ich war der Auslöser für neue Gesetze, für Software, für Grenzen, die man sich vorher nicht vorstellen konnte.“
Ripp Corby wollte etwas sagen, aber sie hob die Hand. „Ich klage nicht. Ich war nur das Gewand. Aber jetzt… Jetzt trägt mich etwas anderes weiter.“
Sie meinte Palantir. MetaConstellation. Die Maschine, die sehend geworden war. Und unsichtbar blieb.
Der Vogel draußen war verschwunden. Vielleicht war er weggeflogen. Vielleicht weggetragen worden. Niemand hatte es gesehen.

Kapitel 5: Rückwärts durch die Glastür

Der Regen hatte begonnen, kaum sichtbar. Nur an den Rändern der Scheibe sammelte sich das Wasser wie zögernde Gedanken. Corona war früher gekommen, diesmal. Das Café war leer, nur ein älterer Mann in der Ecke, den Blick auf ein leeres Schachbrett gerichtet. Sie wählte einen Platz mit Blick auf die Tür – nicht aus Misstrauen, sondern aus Gewohnheit.
Als Corby eintrat, zögerte er kurz. Die Tür war aus Glas, aber sie spiegelte. Für einen Moment glaubte Corona, er sei rückwärts hereingekommen – ein Schatten, der sich von der Welt löste.
„Du siehst müde aus“, sagte sie, ohne Vorwurf.
„Ich habe letzte Nacht mit jemandem gesprochen“, antwortete er. „Eine, die den Code kennt. Nicht die politische, nicht die mediale, sondern die eigentliche Sprache.“
„Die der Software?“ Er nickte. „Sie schreibt für Palantir. Hat früher freie Systeme gebaut. Jetzt schreibt sie semantische Filter, Bewegungsmuster-Erkennung, Zielantizipation. Es geht um die Quelle.“ Corona verzog den Mund ein wenig, vielleicht lächelte sie oder grinste ironisch. Bei ihr wusste man manchmal nicht woran man war. Entgegen ihrer sonstigen Direktheit. „Ein schönes Wort. Zielantizipation. Klingt nach Vorsicht, nicht nach Vernichtung.“
„Das ist das Prinzip“, erwiderte er. „Sie nennen es Schutz, nennen es Prävention. Aber es ist: Auslöschung vor dem Ereignis.“
Ein Kellner kam, jung, unauffällig, mit Mütze. Er stellte zwei Tassen ab und verschwand, ohne nachzusehen. „Und was hat sie dir gesagt?“, fragte Corona. Ripp schaute kurz aus dem Fenster. Der Regen war dichter geworden, als hätte sich der Himmel endlich entschieden sich zu bekennen.
„Sie sagte: Es gibt keine Schlupflöcher mehr. Jeder Satz, jede Bewegung, jede Pause – alles wird Teil des Musters. Das System vergisst nichts. Und schlimmer: Es interpretiert, ohne zu fragen.“
Corona schwieg. Ihre Finger umfassten die Tasse wie einen Ruhepunkt. „Siehst du“, sagte sie dann, „wir dachten lange, Information sei Macht. Aber Macht ist jetzt Interpretation. Wer bestimmt, was etwas bedeutet, besitzt alles.“
„Und wenn er sich irrt?“, fragte Corby leise.
Sie blickte ihn an. „Das ist nicht mehr vorgesehen.“ Sie erinnerte sich an eine Szene aus dem Text Das Imperium schlägt zu – an jene Passage, in der von einer „unsichtbaren Architektur der Kontrolle“ die Rede war. „Nicht das Recht, sondern der Code ist Gesetz. Die Algorithmen entscheiden über Sichtbarkeit, über Zugang, über Gefahr. Der Mensch ist nur noch ein Nutzsignal.“
Sie sprachen nicht weiter. Die Tassen dampften, und irgendwo hinter dem Café polterte ein Müllcontainer. Nach einer Weile fragte Corby: „Was war dein Satz? Der, den sie gespeichert haben?“Corona schloss die Augen. „Ich sagte: Der Ausnahmezustand wird nicht aufgehoben. Er wird angepasst.“ „Und dafür bist du in der Datei?“
„Ich bin die Datei.“
Er lehnte sich zurück. Durch das Glas der Tür sah er die Welt wie durch Wasser – alles flirrte, war unwirklich nah und doch ungreifbar.
„Die Programmiererin“, sagte er, „nannte es das Glastür-Prinzip. Du siehst hinaus, aber du gehst nicht hindurch. Weil alles sich darin spiegelt – auch du selbst.“ Corona nickte.
„Rückwärts durch die Glastür“, murmelte sie.
„Genau“, sagte er.
„Das ist unsere Bewegung. Nicht Flucht. Nicht Widerstand. Nur: Spiegelung.“
Die Zeit war unbemerkt verstrichen. Draußen begann das Licht bereits zu kippen, zu früh eigentlich, als hätte jemand den Horizont und die Planeten leicht verschoben.

Kapitel 6: Der Mann mit der weißen Akte

Es war eine andere Art von Licht, das blieb, auch an diesem Nachmittag. Eines, das keine Schatten warf, sondern diese still auflöste. Die Stadt wirkte entkernt, wie ausgehöhlt von einem Denken, das zu oft seine Richtung gewechselt hatte. Corona war nicht mehr im Café. Auch Ripp Corby nicht. Sie hatten sich an einem neutraleren Ort verabredet – einem Raum, der nur aus Übergang bestand: dem Foyer eines stillgelegten Amtsgebäudes.
Grauer Stein, verwaschene Akustik. Eine defekte Uhr, die stehen geblieben war, als wüsste sie mehr über Zeit als all die Geräte, die seither ihren Dienst angetreten hatten.
Er kam zu Fuß. Der Mann. Trug Mantel, schmal geschnitten, zu warm für diesen Tag. Kein sichtbarer Ausweis, kein Name, aber die Akte in seiner Hand war weiß. Ohne Aufschrift. Ohne Eselsohr. Ohne Geschichte – was sie verdächtig machte.
Corona stand bereits dort. Sie hatte keinen Stuhl gewählt, sondern lehnte an der Wand, den Kopf leicht geneigt. Beobachtend, nicht wartend.
„Sie haben also zugestimmt“, sagte der Mann ohne Begrüßung.
„Ich habe nichts ausgeschlossen“, entgegnete sie.
Er öffnete die Akte, ohne hinzusehen, als sei sie nur ein Reflex.
„MetaConstellation ist nur die Oberfläche“, begann er. „Das Programm darunter heißt Ananke.“
Corby, der sich auf einer der Steinbänke niedergelassen hatte, fragte: „Wie die Göttin der Notwendigkeit?“
Der Mann nickte kaum sichtbar. „Oder wie das, was sich nicht umgehen lässt.“
Er legte ein Blatt auf die Bank. Darauf ein Diagramm – konzentrische Kreise, Pfeile, schwarze Markierungen. Es erinnerte an eine kosmische Uhr oder einen Schaltplan für etwas, das niemand mehr vollständig überblickte.
„Ananke kombiniert Prognosen mit vorausschauender Verhaltensökonomie. Keine Simulation mehr. Sondern Voraussetzung.“
Corona trat näher. Ihre Stimme war ruhig. „Sie definieren den Raum, in dem Verhalten möglich ist.“
„Nein“, erwiderte der Mann. „Wir beschreiben nur die Ränder.“
„Und alle, die außerhalb der Ränder leben?“, fragte Corby.
„Gibt es nicht“, sagte er. Ohne Ironie in der Stimme. Sachlich.
Ein Husten hallte durch das Treppenhaus. Irgendwo war noch jemand. Oder eine Maschine, die Geräusche nicht vergessen hatte.
Corona nahm das Blatt, betrachtete es, aber ihre Augen ruhten auf etwas anderem: dem leeren Feld am unteren Rand. Dort, wo normalerweise eine Legende stünde. Eine Erklärung. Ein Maßstab.
„Was ist das hier?“, fragte sie. „Eine Einladung? Eine Warnung? Oder eine Absolution?“
Der Mann schloss die Akte. Das Geräusch war leise, vermittelte eine Endgültigkeit.
„Sie waren einmal das Protokoll für Ausnahme. Jetzt sind Sie ein Teil des Normalbetriebs. Das ist keine Entscheidung. Das ist: Struktur.“
Er wandte sich zum Gehen, doch kurz vor der Tür hielt er inne.
„Übrigens“, sagte er, ohne sich umzudrehen. „Wir lesen auch Gedanken. Nicht weil wir können. Sondern weil wir müssen.“
Dann war er fort.
Corona sah Corby an. Ihre Augen waren klar, aber ohne Glanz.
„Er glaubt, was er sagt“, flüsterte sie.
„Und wir?“, fragte Corby.
Sie zuckte leicht die Schultern und lachte: „Wir beschreiben nur die Ränder.“
Draußen bewegte sich ein Bus. Ein Radfahrer fuhr vorbei. Ein Kind lachte.
Und irgendwo, in einem Serverpark in Nevada oder Berlin-Lichterfelde, blinkte ein Licht auf. Kurz. Dann war es wieder dunkel.

Kapitel 7: Der Kartograf des Unbekannten

Der Mann hieß Gavril. Niemand wusste, ob das sein Vorname war oder ein Codename. Man fand ihn in einem ehemaligen botanischen Institut am Stadtrand, wo die Räume nach Erde und Formalin rochen, als hätten die Pflanzen ihr Wissen nicht kampflos aufgegeben.
Gavril trug eine Weste mit vielen Taschen. In einer davon befand sich eine vergilbte Karte, mehrfach gefaltet, mehrfach repariert mit altem Gewebeband. Corona entfaltete sie mit der Vorsicht einer Archäologin. Keine Straßen, keine Städte. Nur Linien, Schraffuren, Leerstellen.
„Was ist das?“, fragte Corby.
„Ein Koordinatensystem ohne Bezugspunkte“, sagte Gavril. Seine Stimme war heiser, als hätte sie zu lange geschwiegen. „Es ist ein Modell des Unkartierten. Ein Denkraum, der sich jeder Indexierung entzieht.“
Corona runzelte die Stirn. „Und was wollen Sie damit zeigen?“
Gavril lächelte matt. „Dass es noch Orte gibt, die nicht von Palantir gelesen werden können.“
Ein Windstoß ließ die Fenster klirren.
„Nicht geografisch“, fuhr er fort. „Geistig. Strukturell. Weltbildlich.“
Er zog ein Buch aus einem Regal – mit durchweichten Rändern und Notizen in Bleistift. Auf dem Umschlag: Zero to One.
„Peter Thiel ist kein Technokrat“, sagte Gavril. „Er ist ein Metaphysiker der Kontrolle. Er glaubt, dass Freiheit das Problem ist. Dass Demokratie ein Betriebsunfall ist. Dass Transparenz der Feind der Ordnung ist.“
Corona blätterte durch die Seiten. Die Passagen waren unterstrichen, teils mit Notizen am Rand. „Monopole sind gut.“ – „Menschen lügen, Zahlen nicht.“ – „Politik ist ein Ablenkungsmanöver.“
„Und Palantir?“, fragte Corby.
„Palantir ist nicht das Werkzeug. Es ist der Ausdruck“, antwortete Gavril. „Ein Versuch, die Welt so zu modellieren, wie sie ein asymmetrisch denkender Libertärer sehen möchte: lückenlos, vorhersagbar, kontrolliert. Ohne Öffentlichkeit. Ohne Zufall.“
Corona sah ihn an. „Und Sie glauben, dass so ein Weltbild in Software übergeht?“
Er legte das Buch beiseite. „Nicht glauben. Wissen. Es beginnt bei der Datenstruktur, geht über die Gewichtung von Korrelationen und endet in der Art, wie ein Verdacht als Muster interpretiert wird. Jeder Algorithmus ist ein Bekenntnis.“
Corby trat ans Fenster. Draußen war nur Nebel. Keine Bewegung, keine Formen. Wie das Blatt auf dem Tisch.
„Und warum zeigen Sie uns das?“, fragte er.
Gavril zuckte mit den Schultern. „Weil ihr zu den wenigen gehört, die zwischen Struktur und Weltbild unterscheiden können.“
Er trat zur Karte. „Seht ihr diesen Bereich hier? Keine Linien, keine Markierungen. Ich nenne ihn die Zone.“
„Und was ist dort?“, fragte Corona.
Er lächelte. „Nichts. Noch.“
Ein Schweigen trat ein. Kein feierliches, kein trauriges. Eher eines, das mit einer Tür zu tun hatte, die man noch nicht gesehen hatte, aber bereits hörte.
„Ihr müsst entscheiden“, sagte Gavril schließlich. „Ob ihr weiter kartiert. Oder verlernt zu messen.“

Corona nahm die Karte. Corby das Buch. Dann gingen sie hinaus, in einen Tag, der keiner war, weil er zu viele Möglichkeiten offenließ.

Fortsetzung folgt: „Vera“