Lamellen – Begegnungen – eine Vorgeschichte von Jens Gärtner und Svenja Hirsch. Aus: Ambigue Begegnungen, Bod Verlag.
In Screbrenica wurden im Juli 1995 während des Bosnien Krieges über 8200 Jungen, Männer, Greise, einfach jede männliche Person ermordet. Das Massaker wurde unter der Führung von Ratko Mladic (Armee der Republice Srpske, der Polizei und Paramilitärs) verübt.
Das Fenster geht über die gesamte Zimmerfront. Auf derFensterbank ein Blumenkübel mit abgebrochenen Stielen. Ich sollte sie mehr pflegen, mehr gießen. Sie sehen traurig aus, trocken und verdorben. So wie ich. Das Licht des Computer-Bildschirms färbt bläulich auf die Zweige ab, auf meine Hände. Seit einer halben Stunde beobachte ich das Farbspiel, starre apathisch aus dem Fenster. Ein Wohnblock neben dem nächsten, aufgebaut in Reih und Glied. Zwischendrin nur die Balkone, kleine Terrassen und Gärten, ein schmaler Gehweg.
Von der Seite her rauscht die Straße. Die Fenster gegenüber sind gardinenverhangen.
Alte Leute, denke ich und schaue kurz zurück auf den Bildschirm. Nur das eine, schräg rechts, hat keine weißen, fließenden Spitzenstoffe. Ein Lamellenrollo verdeckt, wenn etwas verdeckt werden soll. Zeigt, wenn etwas gezeigt werden soll, oder deutet an, was sich dahinter verbergen könnte. Ich kneife die Augen zusammen, schaue dann schnell wieder weg. MeineGardinen sind weiß und schwer, mit großen Ösen, nur zugezogen, wenn ich schlafe. Sonst kann jeder von gegenüber sehen, wie ich alleine und zusammengerollt auf meiner 90 cm breiten Matratze liege. Kein Platz für einen zweiten Menschen in der Ein-Zimmer- Wohnung. Jetzt sind die Gardinen zu beiden Seiten aufgezogen, geben den Blick auf mich an meinem Schreibtisch frei.
Hinter den Lamellen ist ein Schatten. Ein Kind oder ein sitzender Erwachsener. Schreibtischhöhe, meine Höhe. Er bewegt sich und wird länger. Kein Kind, ein ausgewachsener Mensch. Steht frontal, entweder mit dem Rücken oder Gesicht zu mir, breites Kreuz, ein Mann. Er könnte mich jetzt gut beobachten oder sehen, dass ich ihn beobachte, denke ich und schaue weiter zu den Lamellen. Der Schatten bewegt sich, ein zweiter kommt dazu, hinten aus dem Licht einer geöffneten Tür. Oder dem, was ich als diese Tür erkenne. Ich arbeite weiter, öffne Back-Ends, tippe Codes in Masken und aktualisiere. Die Zeit vergeht, ich fülle die Online-Shops meiner Kunden mit neuen Produkten. Trash, denke ich, doch er bringt mir Geld. Bezahlt die Ein-Zimmer-Wohnung mit dem schmalen Bett. Geradeso. Bestandskunden, die ich in meiner guten Zeit als selbstständige OnlineShop-Managerin akquiriert habe. Jetzt mache ich kaum noch Akquise, die Kunden schwinden, die Kontakte generell. Sie gehen mir aus. Drüben brennt noch Licht. Als ich den PC runterfahre, ist es bei mir stockdunkel. Dann werden auch die Lamellen sorgsam von innen geschlossen.
Eigentlich ist es mir völlig egal, was die Leute über mich denken, Sie denken ja, was sie wollen. Ich habe meine Fenster gern offen, frei von Stoff, anders als viele hier. Biete, wem auch immer, Einblick. Manchmal nur ein wenig durch schräg gestellte Lamellen. Andere haben allerdings Gardinen, vielleicht nur, um sich dahinter zu verstecken. Die Häuser stehen sich eng gegenüber und geben Einblick in das 100fache Theater in den Schubkästen. Wie Puppenstuben. Wohnzimmer, Schlafzimmer. Wenn die Häuser nach Norden ausgerichtet sind, kann man auch in die Küchen blicken, in die Töpfe gucken. Sehen, wer alleine lebt, Familienleben, wechselnde Partner, nackte Menschen in allen erdenklichen Situationen. Schamlos, vergesslich. Das alles wird von vielen gar nicht mehr wahrgenommen, denke ich, sie nehmen es wie Autoverkehr, in den sie sich einfügen. Gedankenlos,eng beieinander und dennoch anonym. Wen interessiert das schon. Gegenüber sehe ich im Hintergrund eine bläulich illuminierte Silhouette, die sich im Fenster spiegelt. Wieder so eine einsame Person, die sich am Computer festhält, bis sie einschlafen kann. Ich schließe die Lamellen.
Ich sitze gern am Fenster. Wenn ich mich zu sehr beobachtet fühle, schließe ich die Lamellen auf eine Weise, die mir die Möglichkeit lässt, hindurch zu blinzeln und das Geschehen auf der Straße zu verfolgen.
Auch die mittleren Etagen kann ich dann einsehen, dass reicht mir meistens. Ich habe mich einmal in das Treppenhaus gegenüber begeben, um auszuprobieren, was man von dort aus sehen kann. Manchmal, wenn ich jemanden bemerke, spiele ich auch mit der Fensterverdunklung. Egal wer da guckt. Ein Angebot im Schubkastentheater, ja das biete ich manchmal.
In den nächsten Tagen brennt die Sonne in meine Wohnung. Tagsüber muss ich den linken Vorhang ein Stück zuziehen, um nicht komplett zu verbrennen. Ich arbeite, sitze, starre gegen den Stoff. Wie eingepfercht in den eigenen vier Wänden, der Blick kann nicht weit schweifen, er bleibt nur wenige Zentimeter weiter stehen, verirrt sich in dem Weiß, bis er ermüdet aufgibt. Nachmittags lässt sich der Vorhang endlich wieder ganz öffnen. Mein Blick wandert jedes Mal zu den Lamellen, jedes Mal dasselbe Spiel: Ein Schatten, der hinter dem Rollo sitzt, sich erhebt, einige Zeit wie erstarrt verweilt. Ich fühle mich beobachtet und beobachte doch penetrant zurück. So geht es bis zum Freitag. Keine Alternative. Nicht jetzt. Seit zwei Jahren wohne ich hier. Davor war mein Leben fast vier Jahre angenehm. So dachte ich zumindest. Oder vielleicht waren es weniger als vier Jahre, ich bin mir nicht sicher, habe den Wendepunkt weit verpasst. Erst hinterher, als es schon zu spät war und ich mit gepackten Kisten an der Straße saß, dämmerte es mir langsam. Zu zweit war ich. Doch irgendwann spürte ich Einsamkeit.
Die kleinlichen Vorwürfen, zuerst kaum spürbare Verletzungen, die, je mehr es wurden, auch die Wunden tiefer rissen. Die Ablehnung.
Erst nur von romantischen Gesten: Zwei Weihnachtsplätzchen auf einem Teller, einer in Schlüsselform und einer als Herz. Und die andere, versteinerte Miene mir entgegensah, die Worte „ich kann so etwas nicht“. Dann die Ablehnung von dem, was ich war: Meine Lieblingsbilder, meine Bücher, es war alles nicht mehr genug. Nicht mehr auszuhalten, nicht erwünscht. Ich habe das gelernt. Ich habe es für mich angenommen, Romantik gebe ich keinem mehr. Deshalb das 90-cm-Bett, die kleine Wohnung, nur mit mir am PC.
Ich bin erschöpft vom vielen und langen Sitzen, die Augen brennen. Ich ziehe mich aus dem Stuhl hoch, stemme die Hände in den unteren Rücken und drücke das Kreuz durch, sodass es knackt. Frontal stehe ich an meinem Fenster, wieder beobachtend, was diesmal hinter den Lamellen passiert.
Heute regnet es endlich. Häufiger als sonst sind die Gardinen in den Wohnungen gegenüber zurückgezogen. Wahrscheinlich taten es die meisten, so, als biete der Regen ausreichenden Schutz vor eindringenden Blicken. Eine natürliche Längslamelle. Oder es waren Hoffende, die auf besseres Wetter warteten, die Sonne zurücksehnten. Zeitweise zogen die Wolken dicht und schwarz über die Häuser, dass sie wie die Nacht selbst die Dunkelheit vor die Fenster und auf die regennasse Straße warf. Ich blickte in das Grau der Straße, die sich mit dem Himmel zu vereinen schien. In dieses Grau hinein trat eine noch dunkler gekleidete Person, mit einem schwarzen Schirm geschützt, in den Windfang vor der Eingangstür. Das konnte ich von meinem Platz aus gerade noch erahnen. Dann klingelte es bei mir. Ich öffne nicht. Ich will nicht. Ich kenne hier niemanden. Nur gegenüber eine Person, deren Schatten ich hin und wieder sehe. Das reicht mir. Es gibt keine Person mehr, die mir nah ist, also kann ich nicht gemeint sein. Dennoch spüre ich, dass da etwas ist, was ich weiß und das es noch Menschen gibt, die mich vielleicht kennen. Srebrenica ist weit weg. Aber eine Angst ist ganz nah, immer bei mir. Eine Angst, die ich nicht erklären kann. Die ich aus mir verbannen will, indem ich für mich bleibe. Schemen reichen mir.
Der erste Schatten steht am Fenster, hinter ihm Licht, dass durch die Türöffnung steht. Ein Türlichtfeld. Der zweite Schatten bewegt sich in den Raum. Dann stehen beide ganz dicht beieinander, umarmen sich vielleicht. Der zweite bewegt sich einen Schritt zurück, beugt sich zu dem ersten. Sie küssen sich bestimmt, denke ich. Ein warmes Gefühl durchwühlt mich. Schnell und zaghaft. Dann weicht das Gefühl zurück. So sieht auch der zweite Schatten aus, als ob er zurückweiche. Ich kneife die Augen zusammen, schiebe das Kinn nach vorne. Ich stehe einfach da. Die Szenerie kommt mir unwirklich vor, sie fällt heraus aus dem, was die vergangenen Tage hinter den Lamellen geschehen ist. Oder von dem, was ich denke, dass es geschehen sein könnte. Der Schatten bewegt sich minimal, es scheint, als blicke er zu mir herauf. Er verharrt. Der zweite Schatten sieht so aus, als bewege er sich auf den ersten zu. Ich halt die Luft an. Es geht alles ganz schnell. Kaum eine Millisekunde, so schnell, dass ich es nicht begreifen kann und der erste Schatten fällt nach unten. Nichts ist mehr zu sehen. Nur der zweite Schatten, wie er langsam bis ganz ans Fenster tritt, den Kopf gehoben geradeaus, die Lamellen, die sich langsam meinem Blick verschließen.
Ich kenne die Frau nur flüchtig. Ich erkenne sie in ihrem alt gewordenen Gesicht. Aber ich weiß nicht mehr, wer sie war oder gar wie sie hieß. Es stellt sich auch kein Gefühl ein. Sie sagt, sie kenne mich gut. Sie lacht. Warum lacht sie, denke ich. Ein Tee? Ein Kaffee? Etwas anbieten oder keine Zeit haben? Ein Tee wäre jetzt doch gut, sagt die Frau. Ich will meine Lamellen ein wenig weiter öffnen, damit die Person von gegenüber, die immerzu bläulich gefärbte Person, teilhaben kann an meinem Besuch, der mir nach der ersten Überraschung gar nicht mehr bekannt vorkommt. Die weiß, dass ich zurück gucke, sie muss es wissen, sonst macht alles keinen Sinn. Sie könnte Zeugin sein. Ich weiß noch nicht wovon. Sie steht da am Fenster und ich scheine ein Teil von ihrer Welt zu sein. Erst will ich das Teewasser aufsetzen. Es klingelt wieder. Die Frau öffnet, bevor ich bereit bin. Ich weiß nicht, warum ich das zulasse.
Es ist außerdem völlig unaufgeräumt. Was soll ich zuerst machen? Schnell schiebe ich den großen Kleiderständer beiseite. Meinen fast zwei Meter hoher Butler, der wie immer mit Kleidungsstücken, die ich in den letzten Wochen getragen hatte, viel zu voll gepackt war. Meine Aktion ist zu abrupt und das Monstrum kippt, in Zeitlupe zwar, unaufhaltsam zu Boden. Er fällt leicht, weich und leise, gemildert durch den Berg von Klamotten. Lärm macht lediglich das rahmenlos verglaste Poster, welches im Fallen von der Wand gerissen wird. Dann stehen unvermittelt zwei Frauen im Raum. Sie lachen, sie freuen sich scheinbar über das Chaos. Sie sehen sich an und lachen wieder, die zuletzt gekommene Frau sagt:“Ich gehe dann mal in die Küche.“ Sie schwingt sich dynamisch auf einem mit einem dunkelgrünen Highheal beschuhten Fuß in Richtung Küche. Woher weiß sie, wo die Küche ist, denke ich noch, bevor die erste Frau, die mit dem alten Gesicht sagt: „Wir haben Kekse mitgebracht.“ Ich komme nicht darauf. Wer ist sie, und Kekse, was für Kekse? „Wir trinken erst einmal einen Tee und dann räumen wir auf, nicht?“ „Woher kennen Sie mich?“, frage ich. Mittlerweile sitze ich auf meinem Sofa, von wo aus ich sowohl den Raum als auch das Fenster sehen kann. Sie sagt nichts, lächelte aber freundlich. Dabei blitzten zwei silbern überkronte Schneidezähne aus ihrem Mund. Das Dorf, sagt sie nach einer Weile, und jetzt blitzen auch ihre Augen. Aber sie sieht aus, wie jede Frau aus einem Dorf, jedenfalls in ihrem Alter sieht sie aus, wie jede Frau. Eine beliebige Nachbarin aus einem Dorf , ja genau, ich fange an, mich zu erinnern. Ein Dorf an der Drina, in einem Chaos der „Säuberung“. Was machen sie jetzt hier? Ich sehe sie in einem Strom von Menschen, die in alle Richtungen laufen. Die einen Blauhelmsoldaten anschreien, eine Straße blockieren, um Zeit zu gewinnen. Aber das ist sinnlos, denn die Blauhelme verschwinden, die Menschen sind auf sich gestellt. Jeder für sich. Ich für mich. Der Lärm der Granaten die dann kommen, ist verschwunden. Hier ist es still. Hier soll es still bleiben. Das laute Töten geht mich nichts mehr an. Ich nehme einen dieser Kekse. Sie schmecken bitter und zuckersüß. Ich nehme noch einen. Wenn ich kaue, muss ich nicht reden. Worüber auch reden? Blute ich?
Kann das Gewalt gewesen sein? Körperliche. Seelische meine ich zu kennen – schon als ich mit ihm zusammenzog, war ich nicht gänzlich willkommen. Und dann nach zwei Jahren die Haussuche. Ich suchte, sollte aber nicht im Grundbuch stehen. Er traute mir nicht. Er meinte, ich könne ihn ausnehmen. Stattdessen wollte er mich ausnehmen. Ich sollte Miete zahlen, dort im Eigenheim, zahlen für etwas, das ich am Ende nicht besitzen würde, damit er es am Ende besaß. Ich begriff das erst später. So isoliert war ich, dass ich es kaum mehr spürte. Als wäre auch mein Schatten nach unten gefallen, nicht mehr sichtbar. Mein Glück? Ich hatte es nicht verteidigt gegen ihn. Gegen ihn und für mich. Und jetzt sitze ich hier. Ich kann an dem Leben der anderen teilnehmen, wenn ich durch die Scheiben sehe. Mein Kopf erledigt den Rest. Hinter Scheiben können sie mir nichts anhaben, diese Menschen. Wie die wilden Tiere im Zoo. Ich sehe sie und ihr Leben. Glaube, in Kontakt zu stehen und doch können sie nicht an mich ran, mir nichts anhaben. Mir nicht weh tun.
In meinem Kopf dreht sich alles. Zu laut und schwer, wie Kreislauf an einem heißen Sommertag. Habe ich je jemanden in das Haus gegenüber gehen sehen? Und wenn ja, wie könnte ich den- oder diejenige zuordnen? Als Gast hinter den Lamellen? Wenn ein Schatten runter fällt und
wegbleibt. Ist er dann tot? Oder durch ein Licht weg geblendet? Hörte man einen Schuss? Etwas, das nicht im Stande war, zu mir herüber zu dringen, wie ein Schlag oder ein Stich? Und sollte ich rüber gehen? Sollte ich die Polizei rufen, würde man mich für verrückt erklären? Hat es hinter den Lamellen schon eine Putzaktion gegeben, alle Spuren verwischt? Ein Mord oder nur ein ermordeter Schatten?
Ich stehe vor der Tür, die Jacke fest um mich gewickelt. Friere. Bekomme kalte Füße. Alles Grau in Grau. Ich starre auf das Klingelschild. Welcher Name könnte zu den Lamellen passen? Peters? Korniman? Jemand kommt aus dem Haus. Der erste Mensch seit Tagen, den ich ohne Fenster zwischen ihm und mir anschaue. Ich reagiere schnell, nicke, lächle, fasse an die Glasscheibe der Tür und halte mir diese in den Hauseingang auf. Wieder dieses Kreislaufproblem. Mir ist schwindelig. Menschen. Menschen machen mich wahnsinnig, wenn keine Scheibe zwischen ihnen und mir ist. Und doch spüre ich, wie ich nach dem Kontakt geradezu lechze, ich fühle mich wie ausgehungert. Als habe ich mir eben gerade, durch die Begegnung auf der Treppe eine Spritze gesetzt, gefüllt mit einer höchst abhängig machenden Droge. Reingedrückt, ab in die Blutkreislaufbahn. Mehr davon, sonst fange ich noch an zu zittern. Also steige ich die Treppe hinauf. Erster Stock. Hier müsste es sein. Es duftet nach Tee. Soll ich klingeln?
Im Treppenhaus steht noch eine Frau. Ich werde verrückt, werde ich verfolgt? Aber die im Treppenhaus kommt mir bekannt vor. Aus den Augenwinkeln heraus scheint die Frau Ähnlichkeit mit der bläulich beleuchteten Person von Gegenüber zu haben. Ich erschrecke. Machten die gemeinsame Sache? Komm leg dich aufs Bett, hatten sie mich aufgefordert. „Du bist ja ganz blass, lachen sie. Die zweite Frau, die zuletzt gekommen war und genau wie die erste keinen Namen nannte, hatte sich schon rückwärts auf mein Bett fallen lassen. Wie waren sie überhaupt im Schlafzimmer gelandet? Weg von den Lamellen! Die erste zog mich am Arm und biss mir in den Hals gebissen. Und gelacht. Dann schubst mich die eine und die andere zog. Ich fliege auf das Bett. Jetzt schreit die zweite: „Was machst du hier in meinem Bett?“ Sie ziehen mir, als ich im Bett zappel, den Gürtel aus der Hose und freuen sich. War das noch Spaß? Dann stoßen sie mich mit den Füssen auf den Boden, treten zu und versuchen mich mit dem Gürtel zu treffen. „Für Srebrenica“, schreien sie. „Wir ziehen Dir die Haut ab.“ „Ich hab doch nichts gemacht!“ , brülle ich. „Genau das ist es ja, du hast nur zugeguckt, du Feigling“. Ich will etwas erwidern, erklären, aber sie wollen nicht reden. Ich drehe mich zur Seite trample und strample mich frei. Mit letzte Kraft renne ich aus der Wohnung gerannt. Ich verliere meine Sinne. Jetzt steht diese Frau hier. Ist sie jetzt in Gefahr?
Kann ich sie da oben rein laufen lassen? Ich laufe an ihr vorbei, über die Straße in das Treppenhaus hinein, was mir von meinen Besuchen bereits vertraut ist. Von hier aus blicke ich in meine Wohnung, in der gerade die Jalousien, die ich vorhin weiter geöffnet hatte, vollständig geschlossen werden. Ich blicke noch einen Moment hinüber. Mein Herz rast und ich schwitze. Diesen Zustand meines Körpers bekomme ich nicht unter Kontrolle. Auf einem Treppenabsatz ruhe ich mich aus, was ich nicht lange aushalte. Als ich wieder aufstehe, sehe ich hinter den Lamellen meiner Wohnung einen schwachen Lichtschein. Er wirkt nicht wie ein Lampenlicht, das würde man in diesem noch schummrigen Tageslicht nicht erkennen. Was für ein Licht kann das sein? Ein Zeichen? Für mich? Ich stehe unschlüssig im Treppenhaus. Soll ich bei der Person klingeln, die immer im bläulichen Licht steht? Mit welcher Begründung? Ich denke, sie sieht mich auch. Fühle, dass sie mich kennt, da wir uns gewissermaßen täglich sehen. Ich wolle „Hallo“ sagen? Aber ich musste doch wissen, ob sie in meiner Wohnung war. Sie war doch meine einzige Bekannte von Gegenüber. Jedenfalls sehe ich sie immer. Wenn sie am Fenster ist. Ich muss doch auch für sie ein Bekannter sein. Unentschieden blicke ich wieder über die Straße. Sie scheint immer breiter zu werden. Ein Schwindel erfasst mich, mein Kopf weitet sich. Die Straße färbt sich blauschwarz zu einem Fluss. Das Wohnhaus gegenüber schrumpft zu einem Häuschen, wie das in Srebrenica. Srebrenica 1995, das Haus das brannte. Aus dem liefen jetzt zwei Frauen heraus und schrien. Ich sah sie weglaufen, voller Angst. Männer liefen ihnen nach. Schüsse fielen. Die Alte mit den Metallzähnen wurde jetzt in meinem Kopf immer jünger und lief rückwärts. Ich erinnerte mich nicht mehr, wer war ich da in Srebrenica, in dem Massaker. Das Haus am Fluss brannte jetzt lichterloh.
Der Mann ist verrückt, nicht ich! Ja, es ist ein erwachsener Mann. Ich habe ihn gesehen. Eben. Ich stand vor seiner Tür. Dreckiges Weiß, Schrammen im Holz. Die Tür wurde von Innen aufgerissen. Er. Nackt. Keuchend. Als habe man ihn gejagt. Schweissüberströmt, wie ein Urmensch aus einer anderen Zeit. Er starrte mich an. Wie ein Gespenst, auf das er gewartet hat. Ich sah an ihm hinunter. Was sollte ich sonst tun? Da fiel es mir auf, seine Hände. Rot. Auffallend rot. Er preschte an mir vorbei, so wie er war, die Treppen hinunter. Ich lief ein paar Schritte hinterher. So verrückt und aufgescheucht hätte er leicht ein Kind erschrecken können. Oder jemanden angreifen. Er könnte jemandem weh tun.
Aber was weiß ich schon über Menschen! In so vielen habe ich mich getäuscht, gerade in den mir so nahe geglaubten. Ich sehe, wie er hinüberläuft, von seinem Treppenhaus in meines. Und ich bin hier. Was tun, was tun? Ich zittere am ganzen Körper. Entzugserscheinung? Oder kann ich ihnen nicht mehr begegnen, den Menschen, so ganz ohne Scheibe, die nackte Realität vor Augen, den ganzen Wahnsinn?
Es gibt kein Zurück. Ich kann nicht hinüber, nicht in meine Wohnung. Da ist er. „Egal wo ich bin, du bist schon da“, der Satz des Todes, ein Satz, der mich an alte Zeiten erinnert. Den er zu mir sagte, im gemeinsamen Bett. Es schmerzt. Ich kann nur hier warten. Oder ganz gehen. Ein paar Straßen weiter. Zur Polizeiwache.
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